Gotterlebnis oder Konfession?
(Ein Vortrag)
Bevor ich die von Ihnen gestellte Frage zu beantworten versuche, möchte ich Sie auf eine gewisse Zweideutigkeit der Sprache hinweisen dürfen, die dem Titel meines Vortrags “Gotterlebnis oder Konfession” unvermeidlich anhaftet. Denn das Wörtlein “oder”, welches zwischen den beiden Begriffen Gotterlebnis und Konfession eine besondere Beziehung setzt und aussagt, kann durchaus ein Doppeltes bedeuten. Es kann soviel bedeuten wie: entweder Gotterlebnis oder Konfession, dergestalt zwar, daß das Gotterlebnis die Konfession ausschließt, die Konfession das Gotterlebnis, und daß beide niemals zu gleicher Zeit und in gleichem Sinne ein und dasselbe Bewußtsein füllen. Außerdem kann es aber, wie jedes “oder”, das genau Entgegengesetzte bedeuten, daß man nämlich statt Gotterlebnis ebenso gut auch Konfession sagen dürfe, daß eines fürs andere gleichsinnig seht, eines das andere gleichsinnig vertritt, wie beispielsweise Schiller seine Luise Millerin auf den Rat Ifflands hin Kabale und Liebe nannte und wir seither mit gleichem Rechte den ersten oder den zweiten Titel brauchen. Welche von diesen beiden möglichen Auslegungen wir unserem heutigen Thema zu unterstellen hätten, steht mithin keineswegs von vornherein fest, selbst wenn wir aus mancherlei Anzeichen zu erraten glauben, daß die erste zutrifft und wir unter dem Gotterlebnis den ausschließenden Gegensatz zur Konfession zu verstehen haben und daß, wer dem Gott in irgendeiner seiner tausend Gestalten jemals begegnete, der Konfession mit Leichtigkeit entraten könne, – während umgekehrt, wo das Gewicht auf die Konfession gelegt werde, der Mangel an eigenem Gotterleben auch schon erwiesen sei.
Unterstellen wir freilich, um überhaupt vorwärts zu kommen, diese Auslegung als die zutreffende, und verstehen das Gotterlebnis als das religiöse Urerlebnis schlechthin, die Konfession dagegen bloß als den nachträglichen Ersatz und Lückenbüßer für die ausbleibende Begegnung mit dem Gott, – gibt uns dann hierzu der unbefangen geprüfte Sachverhalt wirklich auch ein Recht? Sind religiöses Erlebnis und religiöses Bekenntnis von Haus aus und sozusagen aus wesensgesetzlichen Gründen unvereinbar? Oder etwas zurückhaltender und abgegrenzter gefragt, – waren beide unvereinbar in jenem geschichtlichen Augenblick, wo die Konfession dem Einzelnen zum ersten Male auferlegt ward, um ihm seine Zugehörigkeit zur kultischen Gemeinde, zum religiösen Orden, zum kirchlichen Verbande zu erwerben? Unstreitig vertritt die Konfession in diesem Augenblick die ehemalige Initiation oder Einweihung der antiken Mysterienbünde; unstreitig haben wir hier die lateinische Bezeichnung der confessio abzuleiten von dem Tätigkeitswort confiteor, das ist bekennen, eingestehen, kundgeben oder kennbar machen. Aber wenn diese übliche Verdeutschung gewiß auch nicht unrichtig ist, so steht es doch dahin, ob sie den Sachverhalt ausreichend klären helfe, ob sie gründlich genug oder gar erschöpfend wäre. Wie liegen doch die Dinge, aus größerer Nähe betrachtet?
Wir werden kaum allzuweit von der Wahrheit abirren, wenn wir das apostolische Glaubensbekenntnis als die geschichtlich früheste Konfession bewerten. Und gilt es uns vor allem zu ermitteln, was Konfession im Zeitpunkt ihrer Entstehung gewesen ist, der ihre überzeitliche Absicht und Zielstellung am deutlichsten offenbart, dann werden wir am besten bei diesem Apostolikum noch ein wenig verweilen. In drei Absätzen wieder holt dieses Apostolikum die bekennende Formel: ich glaube! Was besagt dies? Wir folgen der aufschlußreichen Darlegung des Leipziger Orientalisten und Theologen Alfred Jeremias, wenn wir unser neuhochdeutsches Wort “Glauben” auf das ältere gelobân zurückführen; gelobân, das ist geloben, und so drückt das dreimalige “Ich glaube” des Apostolikums zutiefst das dreimalige Gelöbnis, ja dreimalige Gelübde aus, kraft dessen sich der Bekennende der Gottheit in ihrer dreifachen Erscheinungsweise unverbrüchlich weiht und darbringt! Bekenntnis ablegen in diesem hohen und strengen Begriffe, das heißt der dreieinigen Gottheit in der dreifachen Personifikation des Vaters, des Sohnes, des heiligen Geistes Treue schwören: das heißt sich ihr vorbehaltlos anverloben und anvermählen. Und so gewiß diese Form des öffentlichen Bekenntnisses gegen die antiken Mysterienreligionen gehalten ein neuer Brauch war, so gewiß gibt ihr Inhalt in leichter Übermalung nur eine religiöse Vorstellung wieder, die von der heutigen Forschung mit hinlänglicher Wahrscheinlichkeit der verdunkelten Urreligion der Menschheit zugerechnet werden darf. In welche vorgeschichtlichen und frühgeschichtlichen Zeitenfernen uns die Mythik vom Vater und Sohn entführt, ist durch die Untersuchungen Herman Wirts, erläutert und ergänzt durch die exakten Ergebnisse von Alfred Jeremias, von Leo Frobenius, zwar noch nicht restlos sichergestellt, immerhin aber denkbar gemacht worden. Was jedoch die dritte Erscheinungsweise der vom Apostolikum bekannten Gottheit anbetrifft, den heiligen Geist, so erweist er sich mit wachsender Deutlichkeit als wesensselbig mit den heiligen Weihekräften der kultischen Gemeinde selbst, welche in frühchristlicher Überlieferung nicht zufällig mit so großer Innigkeit die Mutter Kirche genannt wird. Der sogenannte Geist, nicht bloß religiös, sondern auch wissenschaftlich für die abendländische Menschheit ein Schicksal sondergleichen geworden, gibt sich unter diesem Sinnbild der Gemeinde oder der Mutter Kirche geradezu als eine christliche Personifikation der großen Welten- und Gottesmutter aller vorchristlichen Kosmologien zu erkennen. Wie denn in semitischen Sprachen der Geist, der Hauch oder der Atem Gottes, hebräisch, ruach, arabisch rih, bemerkenswert genug ebenso weiblichen Geschlechtes ist wie die Ilagia Sophia oder die Weisheit der Gnostiker, aus welcher nach einer hermitisch-christlichen Geheimüberlieferung im Buche Genesis die Schöpfung erfolgt: nicht am Anfang, sondern in der Weisheit schuf Gott (bereschit bara elohim)! Kein Zweifel, und der alexandrinische Jude Philo bezeugt es uns noch besonders, – Vater, Sohn und Geist, im Apostolikum als die drei Masken oder Personen der Gottheit feierlich eingesetzt und bekannt, sind eine christliche Umdeutung des urtümlichen Weltelternpaares Vater Himmel und Mutter Erde, die in heiliger Hochzeit den ewigen Sohn zeugen, welcher dann mehr und mehr dem Vater als dem eigentlichen Schöpfergott als der Erlöser- und Rettergott gegenübertritt.
Hoffen wir auf solche Weise die Tatsache der Konfession geschichtlich einigermaßen richtig aufzufassen, dann ergibt sich das Unerwartete, daß in dieser religiösen Phase Glaubensbekenntnis und Gotterlebnis schlechterdings zusammenfallen. Wer sich hier dem Gott gelobt, indem er den Gott bekennt, bezeugt feierlich, daß er ihm begegnet sei es in der Gestalt des Vaters, Sohnes, Geistes, oder urtümlicher und zutreffender noch gesprochen, in der Gestalt des Vaters, der Mutter und des Sohnes. Und wie hätte es damals auch sein können, wo das Glaubensbekenntnis zugleich eine Kampfansage und Erneuerungsbotschaft war an eine sich auflösende Ordnung der Dinge, wo das Bekenntnis als solches und in richtiger Würdigung seiner Wesenheit, vielfach genügte, seine Bekenner sofort vor die Blut- und Feuerprobe zu stellen! Schwer zu denken, ein einziger Bekenner des Apostolikums hätte diese Probe jemals bestanden, wenn seine Konfession bloßes Lippenbekenntnis oder gar Zwangsbekenntnis gewesen wäre und nicht unmittelbar Ausdruck einer Selbsterfahrung. Was der Mund leichthin in den Wind spricht, befähigt keinen, sich standhaft den Klauen und Hörnern wilder Tiere auszuliefern oder sich als die lebendige Fackel wahnsinniger Cäsaren verbrennen zu lassen. Wer von Ihnen je eine gesammelte Stunde zugebracht hat in dem römischen Amphitheater der Flavier und selbst das Frühlingsgezwitscher der Singvögel übertäubt hörte von den Todesseufzern der hier Gemarterten, die aus der entblößten Unterwelt der Gladiatoren noch nach Jahrtausenden durch die Lüfte zittern, – der weiß Bescheid, was einst die Konfession zu bedeuten hatte.
Bleibt es dabei? Kann es dabei bleiben? Schon aus seelengesetzlichen Gründen nicht. Denn mit seelengesetzlicher Notwendigkeit schwächt sich jedes Erleben in der Wiederholung ab, und jeder Versuch, das Glaubensbekenntnis als den unmittelbaren Ausdruck eines Gotterlebens immer wieder zu erneuern, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Eine Begegnung des Einzelnen mit dem Gott gibt es nur ein einziges Mal. Hat sie stattgefunden, so ist der Betroffene in seinem Wesenskern gewandelt und wird sich Zeit seines Lebens fort und fort verwandeln. Jedes Ritual, welches dieses Ereignis wiederholen zu können vorgibt, bestätigt oder bekräftigt es höchstens, ohne auch nur entfernt an die Entscheidung des Erstfalles heranzureichen. Diese Unwiederholbarkeit des Gotterlebnisses gilt unbedingt auch dort, wo ihm das Pathos der Plötzlichkeit fehlt und wo es die Gesamtlinie des Menschenlebens nicht mitten im Scheitel entzweibricht. Abseits der Dramatik jäher Sinneswandlungen und Sinnesumschwünge, wie sie uns von Paulus, Augustinus, Luther her geläufig sind, abseits der staunenswürdigen Bekehrungen, wie sie das Mittelalter liebt uns wie sie ein Bernhard von Clairvaux in unerhörtem Ausmaße am zeitgenössischen Adel Burgunds mit seiner lohenden Beredsamkeit erzwingt, – abseits dieser im buchstabentreuen Wortverstand “Epoche machenden” Gottesbegegnungen geschehen andere, die weder das Merkmal der Plötzlichkeit, noch das des Durchbruchs, des Einbruchs tragen. Sie vollenden sich schrittweise in der Heimlichkeit, und was sie nachträglich überhaupt erst ins Bewußtsein hebt, ist der schlichte Umstand, daß jemand lange Zeit mit seiner Herzensnot allein war und es irgendwann einmal nicht mehr ist, – daß jemand in Stunden der äußeren Verlassenheit umsonst alle heiligen Namen des Gottes in die Windrose geschrien hatte, aber später, nachdem er müde gekämpft war und jede Hoffnung aufgegeben hatte, mit unbegreiflicher Selbstverständlichkeit das Wort sich selber sprechen hörte: Ich bin da . . . Wie erwähnt, kann es also jede solche Begegnung nur ein allereinzigstes Mal geben. Nichts wäre eitler, nichts freilich auch überflüssiger, als das an sich Unwiederholbare wiederholen zu wollen.
Wir fassen dieses Ergebnis von der unbedingten Einmaligkeit des Gotterlebnisses noch schärfer ins Auge; und dann kann es nicht ausbleiben, daß sich diese seine Unwiederholbarkeit von der grundsätzlichen Wiederholbarkeit des Bekenntnisses mehr und mehr abhebt. Vermutlich wird eines Tages die Konfession so häufig und so formelhaft erneuert worden sein, daß sie jeden lebendigen Bezug auf das einstige Erleben einbüßte: ihr Ausdrucksmittel, die Sprache, und ein leidvolles Schicksal, dem diese unterliegt, bringt es mit sich, daß dieser Vorgang unaufhaltsam ist. Denn die Geschichte fast jeden Wortes, namentlich aber des sakralen, bezeugt es Zug um Zug – genau wie der physikalische Arbeitsvorrat der Welt ist auch die Sprache in gleitender Selbstentwertung begriffen. Vormals magischer Anruf der Urhebermächte der Welt, vormals Totenbann und Geisterbeschwörung, Zauberspruch und Teufelsaustreibung, Gebetstat und Krankenheilung, ja Sinngebung und Lebensschöpfung, sinkt das allmächtige Wort im Lauf der Zeit zum armseligen Werkzeug geselliger Verständigung herab, welche entropische Bewegung unfehlbar auch auf das Glaubensgelöbnis übergreift. Je häufiger es rituell bekannt und wiederholt wird, desto unverpflichtender ist es; eines Tages wurde sogar der Gedanke vergessen, der Bekennende könnte beim Wort genommen und dazu gezwungen werden, das alles einzulösen, was ihm sein Gelübde abfordert. Eine zunehmende Entfremdung zwischen Sprache und Erlebnis tut sich auf, und es ist keineswegs mehr sicher, bald nicht einmal mehr wahrscheinlich, daß dem dreieinigen Gott wirklich auf begegnet sei, wer das Glaubensbekenntnis aufsagt. Bekenntnis, das ist zuletzt geradezu der Ersatz für das Erlebnis, und der Bekennende verhält sich so, als ob er einmal Aug in Auge mit dem Gott gestanden und den unirdischen Blick des Ewigen ausgehalten habe. Wenn der Nominalismus des späten Mittelalters das Wort, welches dem frühen Mittelalter bis weit ins Hochmittelalter hinein als eine Wesenheit, als eine Urheberkraft eigener Art gegolten hatte, bloß noch als einen “Hauch der Stimme” (flatus vocis) kennt, gesprochen aus dem leeren Nichts ins leere Nichts, so zeigt dieser Vorgang mit grausamer Klarheit, daß die genannte entropische Bewegung einstweilen zum Abschluß gekommen ist.
Wo aber haben wir jetzt das Erlebnis des Gottes zu suchen, nachdem das Bekenntnis nicht mehr sein untrüglicher Ausdruck, sondern recht und schlecht sein Ersatz geworden ist? Wie gehen wir auch nur einigermaßen sicher, das Glaubensgelöbnis sei ernst zu nehmen, seit etwa das Christentum in seiner römisch-katholischen Gestalt normaler religiöser Zustand für den Abendländer geworden ist? Jetzt braucht ja niemand mehr zu fürchten, er werde sein Bekenntnis mit dem Martyrium zu büßen haben. Jetzt trifft sich eher umgekehrt, daß zur Rechenschaft gezogen wird, wer das Bekenntnis in der allgemeinen Fassung weigert oder ihm selbstherrlich eine neue Fassung gibt, weil die alte sein gegenwärtiges Gotterleben auf keine Weise mehr zum Ausdruck bringt. Diesem tapferen Neu-Bekenner, der mit äußerster Standhaftigkeit wieder für sein Erleben eintritt, müßte dann freilich entschieden recht sein, was einst dem frühen Christen billig war, wenn er in der Arena, in den Katakomben sein Gelöbnis mit dem Tod besiegelte. Nur daß eben die konfessionell geeinigte Christenheit diese persönliche Freiheit zum eigenen Gotterlebnis rundweg verneint, die in der Vergangenheit ihren eigenen Zusammenschluß bewirkte. Wie verhält sie sich gegen das neue Bekenntnis, das seinerseits wieder auf dem Erleben fußt? Unerbittlich verstößt sie seinen Träger aus ihren Reihen, verdammt sie ihn als Abtrünnling, Irrlehrer, Ketzer, brandmarkt sie ihn als Häretiker! Dieser so furchtbar belastete Begriff des Häretikers leitet sich wie Sie wissen, von dem griechischen Verbum αίοέω ab oder αίοήσω = ich ergreife etwas, ich erwähle mir etwas, – derart zwar, daß der Häretiker im strengsten Sprachverstande ganz einfach der ist, der sich den Gott wählt, wie umgekehrt auch der, den sich der Gott wählt . . . Man kann das Merkmal der tief persönlichen Begegnung nicht schärfer herausstellen, als es durch dieses Wort von der Häresis geschieht, von der freien oder selbstherrlichen Wahl des Gottes (im doppelten Sinn des genetivus subjectivus und des genetivus objectivus). Kein Zweifel, – auf dieser Stufe gibt uns nur der Häretiker noch einige Gewähr, daß seinem Lippenbekenntnis ein Erlebnis des Herzens tatsächlich entspreche. In einem bestimmten Augenblick der Geschichte ist es der Häretiker und der Häretiker allein, der sozusagen mit seinem Kopfe für sein Bekenntnis haftet. Was zeigt sich? Daß der Häretiker zum bevorzugten Träger des Gotterlebnisses geworden ist, welches er mit der vollendeten Eindeutigkeit des Entweder-Oder der gewordenen Konfession entgegensetzt. Gotterlebnis und Gottgelöbnis befinden sich im Stadium ihrer akut polaren Spannung; ihre innere Zugehörigkeit offenbart sich jetzt als Kampf.
Das ist indes nicht alles und vielleicht nicht einmal das Wesentliche. Das Wesentliche besteht vielmehr darin, daß bei näherer Prüfung nicht nur der sachliche Widerstreit zwischen Erlebnis und Bekenntnis in seiner ganzen Schroffheit zutage tritt, sondern daß über diesen Befund weit hinaus ein zeitlicher Fortgang, ein geschichtlicher Ablauf zwischen ihnen merkbar wird, der sich geradezu in gesetzlichen Formen zu bewegen scheint. Da ward zuerst das religiöse Erlebnis Einzelner, ihre einmalige und erstmalige Begegnung mit dem Gott, die sich im Gelöbnis auszudrücken versuchte und in der Folge eine gleichgestimmte Anzahl von Menschen ähnlichen, aber schwächeren Erlebens zur Gemeinde, Bruderschaft, Sekte oder Kirche zusammenschloß. Da war zweitens die aus solchem Erleben herausgewachsene Gruppe selbst, die zwar noch dunkel um ihren Ursprung weiß, aber an ihm selbst doch nur mittelbar teil hat durch das Bekenntnis, das seinerseits einer zunehmenden Erstarrung verfällt. Da war drittens das neue Erlebnis Einzelner als unausbleibliche Gegenwirkung gegen die Vergreisung des Bekenntnisses, wodurch dieses zwar vor endgültiger Entwertung bewahrt bleibt, aber die konfessionell verbundene Gruppe mehr oder weniger in ihrem überlieferten Bestande bedroht wird. Diese drei Gegebenheiten brauchen wir uns bloß mit einiger Sinnfälligkeit zu veranschaulichen, um deutlich die innere Bewegtheit zu spüren, die von einer zur andren hin drängt und die eine aus der anderen hervortreibt. Notwendig ruft erstes Gotterleben das Bekenntnis als seinen sinngemäßen Ausdruck hervor. Notwendig verholzt das Gelöbnis der Gruppe mit der Zeit zum toten Lippenbekenntnis. Notwendig sprengt das neue Erlebnis die Zwänge der erstorbenen Konfession: notwendig verstößt und ächtet der jeweilige Zusammenschluß der Bekenner den Träger des neuen Erlebens als den Häretiker, für welchen keine Strafe hart genug. Dies ist der ewige Geschichtsgang aller Religionen vom Erlebnis zum Bekenntnis, vom Bekenntnis zum Erlebnis. Dies ihr wesenseigener Ablauf und Kreislauf, bevor sie duldsam werden und mit ihrer Duldsamkeit ihrer werbenden Kräfte verlustig gehen.
Unklar bleiben jetzt nur noch zwei Punkte, die wir ins Helle zu rücken hätten. Der erste Punkt betrifft die gang und gäbe Erfahrung, daß das neue Erlebnis niemals in der konfessionellen Gruppe als solcher zum Durchbruch kommt, sondern innerhalb oder außerhalb ihrer immer nur im streng individuierten Einzelnen, in der religiös aufgewühlten und bewegten Person. Auf eine Erfahrung von nicht geringerer Gültigkeit deutet der zweite Punkt, welcher kurz und gut besagt, daß dieser Einzelne mit seinem neuen Erleben niemals ein älteres Erleben einfach wiederholt oder auffrischt, wie es doch denkbar wäre, und daß er sich also auch vor der konfessionell gebundenen Gruppe niemals durch die Tatsache der Präzedenz zu rechtfertigen vermag, – sondern daß sein Erlebnis, selbst wo es mit früheren Erlebnissen Ähnlichkeiten aufweist, mit keinem von ihnen rein zur Deckung gelangt und ihm deshalb den Vorwurf der Häresie mit Unvermeidlichkeit zuziehen muß. Erst das geschichtliche Zusammenwirken beider Umstände verursacht die dauernde Aufgespaltenheit namentlich christlicher Gemeinschaftskörper in ein bekenntnishaft geeinigtes Kollektivum und in erlebnismäßig abgesonderte Individuen, wobei das Kollektivum hinsichtlich des Erlebens durchweg mit Unfruchtbarkeit geschlagen ist, während der erlebnishaft ausgezeichnete Einzelne, wie er sich auch anstellen mag, stets als der Neuschöpfer seins streng individuellen, streng persönlichen Erlebnisses auftritt, keinesfalls als der Nach- empfinder oder gar Nachahmer seiner Vorgänger: So besteht zwar, um nur ein Beispiel namhaft zu machen, zwischen einem Paulus, einem Augustinus, einem Luther eine weitreichende und echte Erlebnisverwandtschaft, ohne daß jemand bestreiten wird, daß jede dieser erlebenden Vollgestalten eine Epoche abendländischer Religiosität einleitet und damit den schöpferischen Rang ihres Erlebens über jeden Zweifel hinaus sicherstellt.
Warum aber, werden Sie endlich fragen, ist die konfessionell gebundene Gruppe vom Erlebnis ausgeschlossen? Warum empfängt jede religiöse oder kultische Gemeinde das Erlebnis immer nur aus zweiter Hand? Warum bleibt das Kollektivum dauernd auf die Übertragung des Erlebnisses von seiten des Individuums angewiesen und wird vom Erlebnis niemals selbst betroffen? Warum lebt in diesem entscheidenden Bezuge die Gemeinschaft unabänderlich auf Kosten der einzelnen Person? Eine Frage, die fürwahr nicht leicht zu beantworten ist, wenn sie auch, wir hoffen es ernstlich, nicht geradezu unbeantwortbar sein dürfte. Am besten, wir ziehen hier einige Ergebnisse der Psychologie des Unbewußten zu Rate, die diesen etwas dunklen Sachverhalt nach der einen oder andern Richtung hin aufzuhellen verheißen. Die Ergebnisse, auch welche ich hier abhebe, machen es bis zu einem gewissen Grade wahrscheinlich, daß unser menschliches Bewußtsein von der Fläche nach der Tiefe hin geschichtet ist, und zwar derart, daß den verschiedenen Seelenlagen je nach ihrem Abstand von der unbewußten Seelenmitte jeweils auch verschiedene Inhalte und Erinnerungsspuren entsprechen: den flächenhaft gelagerten Schichten die Inhalte und Erinnerungsspuren aus dem Bereich einzelmenschlicher Erfahrungen, – den tieferliegenden Schichten die Inhalte und Erinnerungsspuren alter und ältester Gattungserfahrungen. In diesem Bezuge spricht der Zürcher Psychologe Carl Gustav Jung von einem kollektiven Unbewußten und meint damit die in unterschwelliger Seelenlage aufgeschatzten Bilder und Sinnbilder, zu welche das Gattungswesen Mensch in tausenden von vorgeschichtlichen Generationen seine religiösen und mythischen Vorstellungen verdichtet hat. Darnach speichert jede Einzelseele das geistige Erbgut der Menschheit in Gestalt einer begrenzten Anzahl von Symbolen oder urtümlichen Bildern im Erinnerungsraume auf ihres sogenannten Unbewußtseins, in jene nie zu erlotende Abgründigkeit der Seelentiefe hineinversenkt, die dem individuierten Wach- und Tagbewußtsein für gewöhnlich unzugänglich bleibt und meistens erst im Vorgang des Träumens, der seelischen Gleichgewichtsstörung, des künstlerischen Bildens, des dichterischen Schaffens, der denkerischen Innenversenkung gleichsam angebrochen wird.
Hat es mit dieser Lehre Jungs seine Richtigkeit, woran ich trotz aller “Behavioristen” nicht zweifeln möchte, die wieder einmal den Tatbestand “Seele” verabschieden, weil er ihrer Doktrin Unbequemlichkeiten schafft, – dann lassen sich einige Folgerungen daraus ableiten, die uns bei richtiger Verwendung weiterbringen werden. Als erste und aufhellendste Folgerung erwähne ich die, daß die religiöse Verklammerung der konfessionellen Gruppe offenkundig auf eben diesem kollektiven Unterbewußtsein beruht, welches in jedem einzelnen Glied der Gruppe ungefähr den gleichen Vorrat an urtümlichen Bildern, an mythischen und gnostischen Symbolen umspannt, und heute bereits mit einer täglich wachsenden Wahrscheinlichkeit als der eigentliche “Sitz” einer zu vermutenden Urreligion der Menschheit aufgefaßt werden darf. In Wirklichkeit findet sich die Gruppe, welchem religiösen Bekenntnis sie auch angehören mag, immer und immer wieder zueinander auf Grund von einigen rituellen, magischen, sakralen Handlungen, mythischen oder gnostischen Bildern, die sich der unbefangen vergleichenden Forschung im Stock und Kern als wesensselbig auch dort ausweisen, wo die Gruppe wähnt, einen nur ihr eigentümlichen Stil der Religiosität zu vertreten. Sogar wenn späterhin diese Handlungen und Bilder lehrhaft auf Begriffe gezogen und dadurch in echte Konfessionen umgesetzt werden, erfolgt die Vergemeinschaftung der Gruppe niemals von diesen nachträglich abgefangenen Begriffen, sondern von der unterschwelligen Zusammenschau der menschheitlichen Urbilder her; noch mehr wie sonst ist es hier der unterbewußte Instinkt, der die Menschen religiös zueinander führt und sie einem Orden, einer Bruderschaf bündisch verschmilzt, – keineswegs das bewußt erdachte, nachträglich erfundene Motiv. Tief in der traumnahen Zone der Seele geborgen und gleichsam eingewintert, bleibt das religiös-konfessionelle Stammgut unserer Gattung tatsächlich von den Schwankungen der Oberfläche unberührt. Wundersam behütet vor allen Wirbeln äußeren Ereignens, ruht der goldene Hort der Menschheit auf der dunkeln Sohle des Lebensstromes, der brausend über ihn hinwegrauscht, aber nicht das mindeste von ihm an die Ufer spült.
Solches dartun heißt indes gleichzeitig zugeben, daß die konfessionelle Gruppe ihrer Wesenheit nach für das religiöse Erlebnis nur eine sehr geringe oder gar keine Empfänglichkeit aufbringt. Denn eben das kollektiv Unbewußte, welches ihre Glieder in der seelischen Tiefenlage miteinander eint, ist kraft seines Abstandes vom Wachbewußtsein gegen außen hin fast undurchdringlich abgedichtet. Eine Frucht inmitten vieler Mutterhüllen, entzieht es sich allen direkten Einwirkungen der Tages- und Sinnenwelt; in kaum mehr figürlicher Redewendung darf man getrost behaupten, daß es schlafe, daß es träume. Die Leitung von außen nach innen wie von innen nach außen ist die denkbar schlechteste, und wer die Geschichte der religiösen Gemeinschaften einmal geistig an sich vorüberziehen und dabei die revoltierenden Eingriffe der Einzelnen außer acht läßt, wird staunen über die Beharrungskraft, die aus vorgeschichtlicher Zeit bis in die Gegenwart eine kleine Zahl von gleichsinnigen Riten, Sakramenten, Mysterien, Symbolen und zuletzt wohl auch von konfessionellen Typen am Dasein erhalten hat. Fügen wir vollends hinzu, daß die ungemessene Übersteigerung der individuellen Wachheit, durch die mentale, die technische und ökonomische Entwicklung des Abendlandes erforderlich geworden, den natürlichen Ausgleich zwischen Bewußt und Unbewußt noch vielmals erschwert, dann stoßen wir beim kollektiven Unbewußten der konfessionellen Gruppe auf eine innere Starrheit, die sich mit der fortschreitenden Entfremdung beider Seelenschichten notwendig vergrößern muß und jede Empfänglichkeit, ja jede Bereitschaft zum Erlebnis von vornherein bis auf den Nullpunkt verringert.
Um mithin den gemeinmenschlichen Stammbesitz an religiösen Vorstellungen den veränderlichen Inhalten und wechselnden Eindrücken des Wachseins von Fall zu Fall anzupassen, bedarf es offenbar einer zusätzlichen Eigenschaft, welche die Gruppe niemals, wohl aber der Einzelne unter besonders günstigen Umständen aufweist, – ich meine einen Innenzustand, auf jede Einwirkung der Umwelt so fein abgestimmt, daß ihm die Herstellung eines schwebenden Gleichgewichts zwischen den von außen erlittenen Störungen und dem seelischen Erbgut zur eigentlichen Daseinsaufgabe wird. Rechtfertigt sich vom Standpunkt der Biologie, wie wir heute zu erkennen glauben, die Tatsache der Individuation grundsätzlich dadurch, daß diese die Erbmasse der Spezies abwandelt und abändert, so ist es vom Standpunkt des religiösen Erlebnisses der tiefere Sinn der Individuation, die vom Wachbewußtsein allzu dicht abgeriegelten Inhalte des kollektiven Unbewußtseins ihren persönlichen Erfahrungen anzupassen und hierdurch das kollektive Unbewußte in seinem Bestande gleichsam umzubrechen und umzupflügen, ja umzudeuten und umzuwerten. Es gibt Einzelne, deren inneres Pendel schon heftig ausschlägt, wenn auf die Schale ihrer Seelenwage nur ein Flaum fällt, und sie finden sich andauernd zu der bewußt geleisteten Arbeit genötigt, ihre innere Welt gegen die Störungen der äußeren auszuheilen und gegen deren Eingriffe wieder herzustellen: vor allen anderen dürften sie zum religiösen Erlebnis berufen sein.
Derselbe Befund drückt sich auch so aus, daß eine ausnahmsweis gesteigerte Leidempfindlichkeit Voraussetzung des religiösen Erlebens ist, – zugleich freilich auch eine ausnahmsweis gesteigerte Spannkraft zur Überwindung alles Leids. Denn nur wer an seiner Außenwelt heftig und anhaltend leidet, wird seine letzte Kraft einsetzen, diese Außenwelt der Innenwelt möglichst rein anzugleichen und zu diesem Ende vor keiner noch so einschneidenden Umlagerung und Umgestaltung der Inhalte des kollektiven Unbewußten zurückscheuen. Nur er schaltet völlig frei und eigenherrlich mit dem überlieferten Gattungserbe, gleichviel, ob rituelle oder sakramentale Handlung, ob mythisches oder gnostisches Sinnbild, ob dogmatisches Lehrgebäude, ob konfessionelles Gelöbnis; nur er zieht mit spontaner Auswahl aus dem kollektiven Unbewußten just die besonderen Heil- und Weihekräfte heraus, die ihm zur Herstellung eines leidensfreien Zustandes verhelfen. So läßt ihn sein Leiden an der Ungerechtigkeit der Welt das Bild des gerechten Gottes aus der Seelentiefe beschwören. So schafft ihm sein Leiden an der Grausamkeit des Geschehens das Bild des barmherzigen, des gütigen Gottes. So heißt ihn sein Leiden an der Hinfälligkeit des Irdischen seine Zuflucht nehmen zum Bild des ewigen und allmächtigen Gottes. So vollendet ihm sein Leiden an der eigenen Sündhaftigkeit das Bild des erlösenden Gottes. So zaubert ihm sein Leiden an der Undurchdringlichkeit des Weltgeheimnisses das Bild des sich selbst offenbarenden Gottes aus der Heimat aller Bilder, – und solches fort und fort in gebrochener, nie aber endender Reihe. Was nicht der Probe des Erlebens standhält, was nicht dem persönlichen Erleiden abhilft, wird als unbrauchbar außer Kraft gesetzt. In diesem Betracht trifft der religiöse Erleber aus dem gemeinsamen Vorrat des kollektiven Unbewußten seine Auslese und wird so von uns zum zweitenmal als der Häretiker katexochen entlarvt oder als der, der sich seinen Gott selbsttätig wählt, – dies allerdings nun in einem gegen vorhin sehr verdeutlichten Begriffe. Denn was ist zuletzt das Gotterlebnis? Eine aus dem Welterlebnis getroffene individuelle Wahl bestimmter Inhalte des kollektiven Unbewußten, eine Wahl, die mit der Tathandlung der Häresie schlechthin einerlei ist!
Geschichtlich wäre dieser Befund mühelos zu erhärten. Schon in der vorchristlichen Prophetie steht der Träger des Gotterlebnisses immer außerhalb der rechtgläubigen Gruppe, nicht anders übrigens auch in der vorsokratischen Philosophie Griechenlands: stets abgesondert, vereinsamt, beargwöhnt, angefeindet, bisweilen verfolgt, gefangen gesetzt und hingerichtet eben um seines Erlebens willen. In diesem Zusammenhange verschlägt es wenig oder nichts, ob der Künder des neuen Gottes Jeschajâhu, Sohn des Amoz heißt, oder etwas später und in einer mehr abendländischen Umwelt Heraklit von Ephesos; ob er den Sohn Jahves, des “Umscharten”, als den Wiederbringer des davidischen Reiches auf dem Thronstuhl des Messias gewahrt, oder ob er den ewig lebendigen Zeus als den Herrn der rollenden Aeonen preist, der sich auf seinem “Weg hinab” fortschreitend selbst verweltlicht, auf seinem “Weg hinauf” fortschreitend selbst entweltlicht. Der Unterschied für uns hier ist höchstens der, daß der Prophet Israels mit einer Leidenschaft und Inbrunst um die Seele der Gemeinde, Seele des Volks ringt, die ohne Vorgang ist, indes der Philosoph Großgriechenlands von vornherein und mit erschreckender Bitterkeit auf jede esoterische Unterweisung der Gruppe verzichtet . . . Von diesem Unterschied abgesehen, bleibt die Persönlichkeit des Gotterlebers dem Verbande der Rechtgläubigen stets unheimlich, und die polare Spannung zwischen beiden zeigt sich, wir wissen es, im Christentum eher noch versteift als gelockert. Von den Aposteln bis zu den Kirchenvätern und Heiligen, von ihnen bis zu den Äbten Clunys und den Stiftern der Bettelorden, von den Scholastikern und Mystikern bis zu den Reformatoren, Anabaptisten, Puritanern und Pietisten kann die Geschichte des Christentums als die Geschichte einer fortlaufenden Häresie aufgefaßt werden, während deren es der Kirche allerdings in manchen Fällen glückte, die häretische Bewegung noch rechtzeitig aufzufangen und sich selber dienstbar zu machen. Was jedoch den religiösen Erleber betrifft, so verschuldet er sich zwangsläufig an der konfessionellen Gemeinschaft, indem er sie aus ihrem Frieden aufschreckt und ihr Gleichgewicht erschüttert: es ist in Wahrheit seine Will-Kür, die sich an dem aufgeschatzten Seelenhort des kollektiven Unbewußtseins je und je vergreift.
Mit welcher Entschiedenheit das Gotterlebnis jetzt nicht allein der konfessionellen Gruppe, sondern der Konfession als solcher widerstreitet, möchte ich zum Beschluß an dem gewaltigen Beispiel Markions erläutern dürfen, als der ganz ohne Frage überragendsten häretischen Erscheinung des bisherigen Christentums. Die Riesengestalt des Markion aus dem Schutt der Historie behutsam ausgegraben und mit einem ebenmäßigen Aufwand an gelehrter Forschung und menschlicher Begeisterung lebendig vor uns hingestellt zu haben, ist bleibendes Vermächtnis Adolf von Harnacks an die Gegenwart und Zukunft des Christentums, – einer der seltenen Grenzfälle übrigens, wo der bloße Gelehrte an seinem Helden selbst beinahe zum Range eines Verkünders emporwächst. Was ist hier zu sagen über diesen von siebzehn Jahrhunderten mit Schweigen und Vergessenheit zugedeckten Markion? Was zu sagen von seinem Gotterlebnis, das ihn zum Stifter einer so ausgebreiteten Ketzerkirche machte, daß sie für eine geraume Weile sogar der Kirche Roms ernstlich gefährlich geworden war? Was hat es auf sich mit dem Manne, der um ein Haar dem geschichtlichen Christentum die gesamte Glaubensgrundlage des apostolischen Bekenntnisses zum dreieinigen Gott entzogen hätte, indem er nach dem Vorgange der Gnosis den Vater- und Schöpfergott Jahve als den verantwortlichen Urheber der Weltübel (conditor malum) kurzerhand verwirft, indem er Christus, den “guten Gott” des Neuen Testamentes grundsätzlich dem “gerechten Gott” des Alten Testamentes entgegensetzt, ja über ihn erhöht? Dieser Häretiker und Christ Markion, ein wohlhabender Schiffsherr aus Sinope am Pontus, dessen geschichtliche Wirksamkeit ungefähr auf die Mitte des zweiten Jahrhunderts anzusetzen ist – , dieser
Markion erfüllt mit beispielhafter Deutlichkeit die vorhin erwähnte Voraussetzung jeglichen Gotterlebens. Er leidet, leidet im Übermaß an einem Zustand der Wirklichkeit, leidet im Übermaß an der Welt selbst, an der gesamten Schöpfung, die ihm so von Übeln, Plagen, Sünden, Häßlichkeiten starrt, daß sie ihm den Schöpfergott in des Wortes strengstem Sinn verleidet. Mit einer an den jungen Buddho gemahnenden Heftigkeit erlebt der Christ Markion das Nicht-Sein-Sollende des Daseins, das Nicht-Sein-Sollende dieses im Alten Testament von Engeln und Königen, von Patriarchen und Propheten noch hell umhauchten Weltgefüges mit dem Leben und Sterben, Steigen und Fallen, Lieben und Hassen der Kreatur. Fühlbar angeweht vom Hauche indischer Lebensverneinung, ergreift der Christ Markion ganz instinktiv die Partei Buddhos und pflichtet dessen Urteil bei, daß keine Welt besser sei als unsere Welt; diese resolute Umwertung der alttestamentarischen Lebensstimmung verhilft ihm dann zu einem unbedingten Nein, wo die heiligen Schriften Israels noch ihr unbedingtes Ja gesprochen hatten. Und von dieser Umwertung aus haben wir auch jene geistige Judenfeindschaft zu verstehen, die bereits für eine Anzahl von Gnostikern der Epoche zur selbstverständlichen Haltung geworden war.
Im Verfolg einer derartigen Vergegensätzlichung von Altem und Neuem Testament faßt Markion den außerordentlichen Entschluß – αίρέω: ich wähle! – das urtümliche Bild des Vater- und Schöpfergottes, wie es dem kollektiven Unbewußtsein entsteigt, zwar nicht auszulöschen, was ja in keines Einzelmenschen Machtbefugnis stünde, wohl aber es von seiner beherrschenden Stelle herabzustürzen, es zu verwerfen, zu entthronen. Verstehen wir uns also recht – der Schöpfergott, dessen heilige Geschichte uns das Alte Testament erzählt, wird auch von diesem Ketzer Markion keineswegs geleugnet und kann gar nicht geleugnet werden, weil er sich durch die Tatsache seiner Schöpfung jederzeit selbst beglaubigt. Aber sein Rang wird angefochten und es wird bestritten, daß er der Vater des Erlösergottes sei. Statt dessen gilt er für den eigentlichen Gegen- und Widergott des Erlösers, an welchem er sich eine Weltzeit oder einen Aeon lang fort und fort versündigt, bis er in spätester Nachwirkung der Selbstopferung Christi endgültig in dessen messianischer Wesenheit aufgehoben, man kann sagen von ihr aufgesogen wird. Unwiderruflich endigt darnach der Aeon Christi, wenn er erst einmal angebrochen sein wird, den Aeon Jahves, womit die bisherige Auslegung des Alten Testamentes als der Vorbereitungsstufe des Neuen ebenso hinfällig geworden ist, wie die gesamte Dreieinigkeitslehre der Kirche. Mitnichten verhält sichs so, daß das Alte Testament weissagt, was das Neue erfüllt. Vielmehr ist der Herr des Neuen Testaments in jedem Betrachte auch der neue Gott, oder wie Markion lieber sagt, er ist der fremde Gott, den weder Propheten noch Sibylle vorher geschaut haben, ehe ihn Paulus, sein einziger Apostel erkannt und verkündigte – Paulus, welchem nunmehr Markion in allen Stücken nachfolgt. Es verhält sich aber auch nicht so, daß Jahves als unheilig entlarvte Schöpfung durch die Ankunft des fremden Gottes nachträglich geheiligt und entsündigt werde. Sondern es verhält sich so, daß die Erlösertat des guten Gottes die Schöpfertat des gerechten Gottes gleichsam wieder wettmacht – und das freilich ist ein Ereignis, welches am Ende von Jahves Weltzeit sowohl die diesseitigen wie die jenseitigen Verhältnisse entscheidend bestimmen wird, auch wenn wir uns die Art und Weise dieser Bestimmung mit unsern unzulänglichen Erkenntnismitteln nicht weiter vorstellen können. Begrifflich fällt der Sieg Christi mit dem Untergang Jahves durchaus zusammen. Irgend einmal, ob auch noch nicht heute und noch nicht jetzt, wird der zu Zeiten ohnmächtige Erlösergott den zu Zeiten allmächtigen Schöpfergott restlos überwinden, wird die vollendete Erlösung in einen Ur-Stand überführen, den der antike wie der christliche Mythos unter dem Bilde einer allgemeinen Apokatastasis, will meinen, einer allgemeinen Wiederherstellung der Dinge durch den Erlösergott und in dem Erlösergott zu befassen pflegte: wenn “die Zeit erfüllet ist”, wird eine zweite Schöpfung, diesmal mit der Erlösung strengstens wesenselbig, jede Spur der ersten Schöpfung völlig tilgen.
Hier aber, wo wir dem paradigmatischen Häretiker des geschichtlichen Christentums, dem Evangelisten des fremden Gottes, in seinem religiösen Erleben wenigstens geistig so weit zu folgen versuchen, als es unsere schwachen Kräfte zulassen, – hier befällt uns ein plötzlicher und kein geringer Schreck. Denn es wird uns bewußt, wie das Gotterlebnis von seinem Träger immer ausschließlicher Besitz ergreift und ihn über alle Maße und Grenzen der gegebenen Raum-Zeit-Welt hinausreißt. In einem höchsten Sinn den Gott erleben, das heißt offenbar an den Grundfesten des Lebens und der Wirklichkeit rütteln, das heißt Fragen von solch ungeheurer Vergänglichkeit stellen, wie die nach dem Wert des Daseins, nach dem Bestand der Welt, nach der Dauer der Schöpfung, nach dem Eingriff, ja Einbruch der Erlösung. Wer den Gott erlebt, scheint der Welt mehr und mehr zu entrücken, ja abzusterben, und am Ende ist es nur eine Spiegelung dieses wahrhaft bestürzenden Sachverhaltes, wenn Markion seinen Anhängern eine Lebensführung auferlegt, die kaum milder als die buddhistische Asketenpraxis ist, und namentlich Geschlechtstrieb und Fortpflanzungswunsch der Gattung Mensch planmäßig zur Verkümmerung bringt. Die Begegnung mit dem guten, mit dem fremden Gott wird derart zum Signal für den Widerruf der Schöpfung, und dies wäre auch so auszudrücken, daß das Gotterlebnis in strengster und ausschließendster Folgerung die Welt entwelte und die Wirklichkeit entwirkliche.
Damit wäre dann allerdings auch ein letzter Einblick gewonnen, in die Bezüge, die zwischen Gotterlebnis und Konfession obwalten, und wir durchschauen es in einem höheren Begriff als sinnvoll, wenn sich die unmittelbare Gewalt individuellen Erlebens zu allen Zeiten und in allen Völkern an der konfessionellen Gruppe abstumpft. Denn das Gotterlebnis, dem Einzelnen vor der Gemeinschaft als höchste Auszeichnung vorbehalten, birgt die dringendste Gefahr in sich, ihn in eine zur Welt exzentrisch gelagerte Region hinauszuschleudern, die zwar ihm selbst und seiner stärksten Sehnsucht entsprechen kann, aber dem groben Lebenshunger von Völkern und Stämmen so wenig einen Nährboden liefert wie dem Selbsterhaltungswunsche bekenntnismäßig verbundener Bruderschaften und Gemeinden. Mag immerhin der Gott die wählende und von ihm selbst gewählte Persönlichkeit der Welt entfremden, sie aus ihrer Verwurzelung mit den Lebensmächten lösen, ja sie zur freiwilligen Opferung des Daseinstriebes bewegen, – die Gruppe, auch konfessionell dem Gott angelobte Gruppe, wird solch einer radikalen Entirdischung zuletzt doch immer widerstreben und dadurch dem religiösen Erlebnis seine letzte Spitze abbrechen. Werden wir uns in diesem Zwiespalt auf die Seite des Einzelnen schlagen oder die Partei der Gruppe ergreifen? Ich hoffe, weder das eine noch das andere! Denn der religiös ergriffene Einzelne, wie die konfessionell geeinigte Gemeinde folgen ja beide nur ihrem eigenen und unverbrüchlichen Wesensgesetze. Weist ihr bisheriges Zusammenspiel in der Geschichte häufig genug alle Merkmale eines geheimen oder offenen Kampfes auf, ja kann man in vielen Fällen kaum je unterscheiden, ob der Träger des religiösen Erlebnisses der geborene Widersacher der konfessionellen Gemeinschaft sei oder ihr innigster Verbündeter, – so scheint eben der Kampf die angemessene Form, in welcher sich der Wechseltausch innerhalb der geschichtlichen Religionen überhaupt vollzieht. Wir sind dem religiösen Erleber dankbar, denn er führt in gewollter oder ungewollter Häresie treulich die Sache seines Gottes, auf jede Gefahr zwar der Weltflucht und der Lebensverneinung hin: er setzt die niemals unterbrochene Selbstoffenbarung des Gottes durch die Jahrtausende fort und fort und spottet jeglichem Unterfangen, diese Selbstoffenbarung jemals für abgeschlossen und vollendet zu erklären: wehe uns und weh’ der Gruppe, wenn der Einzelne, vom Erlebnis getroffen und aufgerüttelt, seine Person nicht mehr zum Einsatz brächte, wenn der stiebende Funken nicht mehr den kalten Docht entzündete! Aber wir benötigen doch auch gleichzeitig die konfessionell verhärtete Gruppe, welche mit der ihr eigentümlichen Unempfänglichkeit für das Erlebnis unwillkürlich dem Leben diese und seinem tief gegründeten Bedürfnis nach Gleichgewicht und Anpassung welche mit der Trägheit und Beharrungskraft der Natur den dauernden Bestand der Welt verteidigt und sogar ihr mit dem Munde feierlich beschworenes Nein zum Leben und zum Dasein durch ihr tatsächliches Verhalten heimlich in ein Ja umzubiegen weiß: weh’ uns und weh’ dem religiös inspirierten Einzelnen, wenn sie den kalten Docht nicht abgäben, in welchem der stiebende Funken erst zur haltbaren Flamme aufglüht! So aber dürfen wir, den Schlußstrich unserer heutigen Betrachtung ziehend, mit einer versöhnenden Weitherzigkeit die anfänglich zweideutig erscheinenden Fassung unseres nicht eben leichten Themas “Gotterlebnis oder Konfession” endgültig ersetzen, endgültig verbessern in die nunmehr eindeutig gewordene Fassung “Gotterlebnis und Konfession”.