Der Bodensee
(Aus: Frankfurter Zeitung vom 14. November 1935)
Was unseren Bodensee von allen Alpenseen unterscheidet, den ebenbürtigen Bruder im Südwesten der Schweiz nicht ausgenommen, ist seine Ferne und Weite. An keiner Stelle seiner so vielfach geformten Ränder und Randerhebungen, nicht einmal in der Bregenzer Bucht, gibt er sich dazu her, ein blos-ses Spiegelbild für himmelstrebendes Gefels zu sein, sozusagen ein purer Vorwand der Natur, den reichbewegten Umriss ihrer Berge mit ihrem bald jähen Sturz, bald sanften Schwung zum Tale in ein besonders wirksames Licht zu setzen. Nein, so weit sich dieser See ausdehnt und erstreckt, bleibt auch er selbst fürs Auge die selbstherrliche Gegebenheit, indem er es allein schon unaufhörlich durch sein ewig wechselndes Licht- und Farbenspiel zwischen Morgen und Abend beschäftigt. Denn dies ist ja die wahre Unerschöpflichkeit des schwäbischen Meeres, dass es in jeder Tagesstunde und Jahreszeit, bei jeder Bewölkung, Benebelung und Besonnung ein anderes ist und eine allgemeine Aussage, welches seine eigentliche Farbe sei, von vornherein gar nicht zulässt. Wenn die übrigen Alpenseen entweder blau oder grün sind, missfarben oder fahl, so sieht der Bodensee je nach Windrichtung und Windstärke, je nach Sonnenstand und Luftfeuchtigkeit bald flaschengrün gefärbt aus, moosgrün, achatgrün; bald brütet er unbewegt und wie mit einer dünnen Ölschicht übergossen in einem stumpfen Eisengrau, das sich gelegentlich bis zur toten Bleifarbe verdüstert; bald leuchtet er, ein zarter Widerschein des Himmels, in einem sanften Blau, welches bei östlicher Luftbewegung bis zu einem fast harten Ultramarin, ja Kobaltblau übergehen kann: um dann, dies namentlich in sommerlichen Abendstunden, in allen bunten Tinten des Opals verhalten aufzuglühen oder gar wie ein faltenlos ausgespanntes Stück Seide im lichten Blaugrün des Türkis zu erschimmern. Allzu arm ist die Sprache an Bezeichnungen für die zahllos gestuften Abschattungen innerhalb des Farbenkreises, die der See schon bei der leisesten Kräuselung seiner Oberfläche erleidet. Aber gerade in ihrer Unsäglichkeit bezaubern sie das Auge unwiderstehlich und versetzen uns leicht in jenen glückhaften Rausch der Sinne, den uns Deutschen sonst eigentlich nur der Süden spendet. Wie dem übrigens sei – die Farben, eben diese Farben, entführen also den Betrachter immer wieder in die sehnsüchtige Weite, in der ich das Merkmal unseres Bodensees zu gewahren glaube. Wie gern wir auch mit unserem Auge beim nächsten verweilen möchten, immer wieder entgleitet es uns und schweift nach den gegenüberliegenden Ufern, wenn diese sichtbar sind, oder nach den meerhaft entfernten Horizonten, wenn die jenseitigen Ufer unsichtbar bleiben. Vielleicht ist diese so überredsame Ferne und Weite dann aber auch der letzte Grund, warum sich der Bodensee nicht eigentlich malen lässt. Die Ausdehnung seiner Plane scheint sich zur Not noch in Linien und Flächen, nicht aber in wirkliche Farben übertragen zu lassen, und das Pathos seiner Geräumigkeit scheint sich in dem Masse, als sie das Gemüt beschwingt, dem Bilde und seinen Ausdrucksmitteln zu versagen. Vielleicht darf ich an diese Feststellung noch ganz im Vorbeigehen den wichtigen Umstand knüpfen, dass diese natürliche Weiträumigkeit der Bodenseelandschaft sozusagen ihrer historischen Weitläufigkeit durchgängig entspricht, und dass hier eine beinahe einzigartige Übereinstimmung von Natur und Kultur obwaltet. Denn wer immer diese das Herz gleichsam ent-engende Landschaft leiblich durchwandert, der wandert geistig durch die zwölf Jahrhunderte unserer deutschen Vergangenheit, – der stösst bei jedem Schritt auf ihre herrlichsten Denkmale von der romanischen Zeit bis auf die Gegenwart. Der Bodensee, könnte man sagen, ist die Landschaft unseres deutschen Anfangs. Hier beginnt der Deutsche im Namen Gottes zu roden und zu pflanzen, zu bilden und zu bauen, zu dichten, zu singen und zu sinnen; hier setzt sich jeder Fussbreit der sichtbaren Landschaft draussen um in ein Stück Seelenlandschaft drinnen, und wie es den leiblichen Blick unwiderstehlich in die Fernen des Raumes zieht und lockt, so zieht und lockt es den geistigen Blick unwiderstehlich in die Fernen der Zeiten.
Mit all dem will ich keineswegs behaupten, dass die Höhengestaltung der Ufer und Buchten für unseren See eine bare Nebensache sei. Wenn auch das Gebirge nirgends so nahe an das Wasser rückt, dass es die Vorherrschaft der Waagerechten und der Fläche ernstlich beeinträchtigt, trägt es dennoch das seinige zur Charakteristik der Landschaft bei. Im Norden vielfach geradezu in die Ebene abdachend und verflachend, stossen die Berge an anderen Stellen bis nahe an den Wasserspiegel vor, Vorreiter der Alpen, die gleichsam die Ankunft gewaltiger Heersäulen melden. Und auch jetzt scheint uns die Natur all ihre Möglichkeiten vorführen zu wollen, die sie zwischen Gipfel und Tal, zwischen Gebirge und Flachland bereit hält. Kaum ist es zu glauben, dass es derselbe See sei, der am Reichenauer oder Mettnauer Ried etwa den lieblichen Gestaden des Chiemsee ähnelt; und wiederum am Bodansrück bei Sonnenuntergängen des Spätsommers einem der nördlichen Fjorde Norwegens gleicht, umhaucht von aller herben Einsamkeit und Weltverlorenheit der Lofoten; derselbe See, dessen Küste ein abendlicher Blick auf die Bergkegel des Hegau mit Griechenland verwechseln könnte; derselbe See, den im Winter der röhrende Föhn in hochbrandenden Wogenstürzen über die Ufermauern Friedrichshafens wälzt; derselbe See, der einem Sohn der westpreussischen Landschaft Heimweh macht, weil ihn ein Blick auf die Uhldinger Landzunge von gewissen Stellen aus an die Ostsee bei Zopott gemahnt. So finden wir im Bodensee die Küsten und Gestade fast aller europäischen Meere irgendwie angedeutet und vertreten vom nördlichen Atlantik bis zum Mittelmeere. Mit nichts in der Welt aber ist er zu vergleichen an jenen Frühlingstagen, wo sich über seine prangenden Blütengärten die Silberkette der Alpen spannt, vom Tödi und Glärnisch bis zu den Oberstdorfer Gabeln und Hörnern, sie alle gelassen überwölbt vom mächtigen Gestühl des Säntis als ihrer königlichen Mitte, ein Gebirgsstock für sich, wie ihn die Griechen unfehlbar als Thron und Wohnsitz der Götter verehrt hätten. Er hält in hoher Majestät den See und sein Gefilde in guter Hut.