Reinhold Schneider: Auf dem Wege
Zu Leopold Zieglers „Menschwerdung“
In einer selbstbiographischen Niederschrift nannte Leopold Ziegler im September 1924 eine „atheistische Religion“, als das einzig mögliche in dieser gegenwärtigen Welt, das Anliegen seiner bisher erschienenen Hauptwerke „Gestaltwandel der Götter“ und „Der Ewige Buddho“. Er hatte nach einer frühen Untersuchung über die Metaphysik des Tragischen mit der Lossage von Eduard von Hartmann („Das Weltbild Hartmanns“, 1910) den eigenen Weg angetreten, zwei Jahre darauf mit der „Florentinischen Introduktion“ den Entwurf einer Kunstphilosophie folgen lassen, während des ersten Weltkrieges um eine neue Gesellschaftslehre und einen „verheidnischten Augustismus“ gerungen. „Das heilige Reich der Deutschen“ (1925) stellte die Frage nach dem Menschen, der dieses Reich gründete, nach Vergangenheit wie Zukunft. Mit der Goetherede des Jahres 1932 kündigte sich Neues an: sie weist bereits in die Richtung der „Überlieferung“: den Aufbruch zur Kirche mit der ganzen Last der Überlieferungen, von denen die des Ostens immer von besonderer Bedeutung für Leopold Ziegler gewesen sind. In Wahrheit hatte er sich von Eduard von Hartmann nicht so weit entfernt, wie es schien; das Unbewußte bleibt Gegenstand seines Denkens und Forschens; auf der Tatsache, daß es, wie es in dem letzten Werke heißt, „in Ost und West stets auch ähnliche oder sogar gleiche mythische Bilder vorformend in Bereitschaft hält . . . beruht die von uns gemachte Unterstellung einer heilen Überlieferung“.
Ziegler sah von Anfang an als seine Aufgabe „die umfassende Auseinandersetzung mit der Zeit“; aber es ist und bleibt seine Art, „zeitliche Dinge zeitlos zu spiegeln“, damit hat er seinen Rang behauptet, ist er freilich auch oft von der dem Tage mehr sich angleichenden Kulturphilosophie zurückgedrängt; darum auch oft mißverstanden worden. Vor allem muß ein jedes Werk im Zusammenhang des Ganzen gesehen werden (was leider nicht oft geschieht); Ziegler ist auf dem Wege, auch jetzt noch, aber mit sehr schwerem Gepäck, im Ringen mit einem Wissen, das er nicht abwerfen mag, bis es völlig durchläutert ist. Es ist schwerlich die rechte Art, von einem gewissen Standort ihm zuzurufen: Du bist ja nicht am Ziele! Und auf Grund dieser Feststellung das Urteil zu fällen.
Merkwürdigerweise schloß Ziegler jene selbstbiographische Skizze des Jahres 1924 mit den Worten „Es komme Dein Reich“. Das Gestaltbare „menschlich-göttlich zu gestalten“, erschien ihm damals als Errettung aus der Sinnlosigkeit. So befand er sich in der Hoffnung auf eine „Religion oberhalb der Wahrheitsfrage“ schon in der Nähe des Vaterunsers; die „menschlich-göttliche Gestaltung“ nimmt vielleicht schon die Wendung zur Menschwerdung voraus.
„Menschwerdung“ (Zwei Bände, 380 und 399 Seiten, Olten [Schweiz] 1949, Summa Verlag) schließt sich an „Überlieferung“ an; es ist eine Auslegung des Vaterunsers. Diese ist auf zwei Sätze gegründet; darauf „daß jede Überlieferung einen Wahrheitskern in sich enthalte“ und daß „die Gebetshandlung selbst eine Bewegung von oben nach unten vollzieht, die . . . mit dem Vollzuge der Menschwerdung wesenseins ist“. Das Vaterunser ist die unausschöpfbare Zusammenfassung, „nicht mehr noch weniger als die Welt, heil, heilig und geheilt“; es deckt aber auch weithin den Inhalt außerchristlicher Überlieferungen – eben als Teilen der Uroffenbarung; doch soll das evangelische Wort nicht an der Gesamtüberlieferung gemessen, nicht von ihr her gedeutet, wohl aber „umgekehrt diese Gesamtüberlieferung unter das bergende Dach des evangelischen Wortes“ gestellt werden.
So weit der Weg von den Anfängen bis zu diesem Vorhaben ist, so ist er doch folgerichtig; der ihn gegangen ist, hat ein Recht, sich auf den Satz Kierkegaards zu berufen: „Wer verzweifelt, findet den ewigen Menschen“. Der ewige Mensch: das ist der erste und zweite Adam; es ist Adam und Christus – und es ist der Mensch, der des „Ewigen Menschen Signatur in seiner Seele trägt“, wie Jacob Böhme gelehrt hat: „Von Ewigkeit ist der Name Jesus in einer unbeweglichen Liebe im Menschen als im Gleichnis Gottes gestanden“. Nachdem das Wort Fleisch ward, ist Menschwerdung der Sinn, die Aufgabe; sie war vorbreitet, seit Offenbarung an die Menschheit ergangen ist. Aber in „ihrer vollen Strenge wird sie vom Christentum allein offenbart“. Wir müssen uns diesen Satz gegenwärtig halten bei Betrachtung aller Entsprechungen, die Ziegler aufzeigt; immer handelt es sich um solche, nicht um Gleichsetzungen (wie etwa beim Vergleich zwischen Karman, christlicher Schuld und Sühne und chinesischen „Werke-Taten“); an entscheidender Stelle wendet sich Ziegler scharf gegen die gnostische Unterstellung, welche in Leib, Stoff, Materie ein Minderes, nicht sein sollendes Böses vermutet – während er an anderer Stelle freilich Paulus und Johannes die „Gnostiker unter den Aposteln“ nennt; für sich selber würde er wohl mit gewissen Einschränkungen den Namen eines Pelagianers oder Semipelagianers nicht ablehnen. Mit Böhme und Kierkegaard hat Franz von Baader, der ja, über Spanier und Franzosen, von Böhme ergriffen worden ist, mächtig auf ihn eingewirkt. Böhme steht nahe dem Zentrum des Werkes; er hat vor allem als Philosoph, Metaphysiker des Bösen, nicht seinesgleichen; damit ist er aber auch Philosoph der Menschwerdung, deren „äonische Form“, die – „Transsubstantiation der vier Elemente in das fünfte ist“. Der Böse aber wird definiert als „Der Angreifer schlechtweg auf die Menschwerdung“. Denn diese ist das herabkommende Reich mit allen seinen Ordnungen.
Es kann sich hier nur um den Versuch handeln, den Vorsatz des Werkes zu bezeichnen und auf seine Bedeutung hinzuweisen. Es ist nicht mehr zu umgehen, daß die Christen um das Verständnis der großen Überlieferungen der Menschheit ringen, daß die sie tragenden Völker alles nur zu ermittelnde Gemeinsame erkennen, das sie mit dem Christentum verbindet. Das scheint uns eine Forderung dieser Stunde zu sein, die – gegen alle Zerrissenheit und eben angesichts dieser – auf Einswerdung drängt; freilich eine begründete, die von Ehrfurcht und Hochsinn getragen ist, und sich nur unter der Unerbittlichkeit des Gewissens anbahnen könnte. Das Werk Zieglers ist nicht von ungefähr nach der Katastrophe hervorgetreten, während derer es errungen worden ist; es hat den Anspruch, sehr ernst genommen und sorgfältig beantwortet zu werden; könnte es doch den Raum gewaltig erweitern, ja aufbrechen, in dem wir – sehr im Widerspruch zu den geschichtlich-politischen Forderungen des Tages – gefangen sind. Welche Einwände naheliegen, ja nicht verschwiegen werden dürfen, bedarf nach dem vorstehenden wohl keiner Erläuterung; Böhme und Baader führen vor gewaltige, aber auch gefährliche Tiefen der Spekulation; die Annahme der Möglichkeit einer Menschwerdung des ersten Adam, einer Menschwerdung also ohne Sünde; die Behauptung „daß der gemeinsame Hervorgang des Geistes aus Vater und Sohn frühestens dann zu erfolgen vermag, wenn der im Vater Einig gezeugte als Kind der Maria auch fleischlich geboren ward“; die These von der „Zweigeschlechtlichkeit des Geistes“; die Spekulation, daß der Leib des gestürzten Luzifer in der Hand Gottes zum Baustoff der Erde zum „Prinzip der Materialisation“ wurde: die ausdrückliche Zurechnung der Lehre Böhmes zur katholischen Überlieferung, die, bei aller Metaphysik, kühne Annäherung des Reiches an die Erde, die uns das „Ärgernis“ fast vergessen läßt: sie bezeichnen noch einmal die Grenze, die der Referent nicht überschreiten kann.
Aber das ist mit Achtung und Verehrung gesprochen. Gegen die genannten Schwierigkeiten erhebt sich wahrhafte Frömmigkeit, für die das Gebet „vollkommene Selbstverbrennung sämtlicher Hüllen“ ist, „höchstes Wachsein“. Die Einsicht, daß, wie Baader lehrte, „die Eucharistie die Keimzelle unserer abendländischen Gesellschaft, einschließlich des Staates“ sei; daß eine jede bloß geschichtliche Gemeinschaft, wo sie sich nicht aus jener höheren Gemeinschaft der Mysten und Epopten jeweils neu gebiert, für immer ein gröblicher Selbstbetrug bleibt“. Mögen diese Sätze auf die Wichtigkeit, ja Unausweichlichkeit des Werkes für heute und morgen hinweisen können! Möge es in seiner antreibenden, verbindenden Kraft fruchtbar werden!
Die Neue Zeitung, 4.3.1950.