Hermann Hesse: „Überlieferung“

Ein Kulturkritiker und Philosoph von Rang, dazu ein ausgezeichneter Schriftsteller ist Leopold Ziegler; ein neues Werk von ihm darf zu den geistigen Ereignissen gerechnet werden. Sein neues Buch heißt „Überlieferung“ und ist ein weitgespannter Versuch des Überblicks über die gesamte geistig-seelische Tradition der Menschheit mit dem Ziel, diese Erbmasse an Tradition vom abendländischen und christlichen Standpunkt aus zusammenzufassen. Ziegler postuliert eine Einheit der menschlichen Seelen-Erfahrung aller Zeiten, ein neues Erobern und Durchdringen der verschollenen und vernachlässigten Seelenkräfte, und postuliert ein „katholisches“, d.h. weltweites und weltgültiges Christentum, ein Christentum also, das die „heidnischen“ Traditionen nicht verdrängt und bekämpft, sondern mit in sich aufnehmen soll. Mit großem Verständnis und suggestiver Einfühlungskraft entwickelt er im ersten Buch seines Werks den Ritus, d.h. das gewaltige System von Kulten, Bräuchen, Zaubern und Ritualen der primitiven Menschheitsstufe, die Welt der Magie also, das zweite Buch heißt „Buch des Mythos“ und das dritte „Buch der Doxa“. Er vertritt den Anspruch des Geistes, sich die Erfahrungen, Übungen und Methoden beseelter Lebensführung aus allen Zeiten, allen Völkern und Kulturen anzueignen und daraus die neue universale Lebensweisheit für heute und morgen aufzubauen. Ob dies möglich sei, ob es praktisch erreicht und durchgeführt werden könne, bleibt die Frage. Er hat mit seinem Drang nach dem Universalen, mit seiner Postulierung eines überzeitlichen und übernationalen Generalnenners für alle menschliche Seelenerfahrung und Lebenskunst manchen Vorfahren, seine wunderbare und wahrhaft schöpferische Utopie einer universalen Gnosis hat vor ihm schon in manchem Jahrhundert hohe und edle Geister magisch angezogen, und selbst wenn sein Ergebnis „nur“ eine Dichtung wäre, wäre es ein edles und unsrer innigsten Aufmerksamkeit würdiges Ergebnis. Es ist aber mehr. Es ist nicht nur eine Anhäufung von Wissen über Magie, über Yoga, über Kult und Sitten aller Zeiten, es ist eine wirkliche Beschwörung, ein wirkliches Aufrufen und Sichtbarmachung einer verborgenen, immer vorhandenen, dem menschlichen Bewußtsein nie ganz entschwundenen Welt. Darin liegt der lebendige Wert und die große Anziehungskraft seines Buches; es ist ein wirklicher Seher, der es geschrieben hat, nicht nur ein Gelehrter und Sammler. Seine Vertrautheit mit der Weisheit des Ostens (vor etwa 12 Jahren schrieb er sein Aufsehen machendes Buddha-Buch) gibt ihm die Fähigkeit, Getrenntes in Eins zusammenzuschauen, sich überall dem lebendigen Grundquell, nicht den vergänglichen Manifestationen zu verhaften. Er wird von den dogmatisch festgelegten Christen bekämpft und abgelehnt werden; sein Universalismus durchbricht Schranken, die von den Kirchen und Religionsgemeinschaften Europas stets heilig gehalten worden sind. Und in der Tat bleibt es mehr als fraglich, ob das, was er am Ende unter Christentum versteht, mit dem „wirklichen“, historischen Christentum zu vereinigen sei. Aber Utopien sind ja nicht da, um sklavisch realisiert zu werden, sondern um die Möglichkeiten des Schwierigen und doch Ersehnten zur Diskussion zu stellen und den Glauben an diese Möglichkeit zu stärken. Ein vornehmer und lebenskräftiger Geist beschwört hier im Bilde von Gewesenem den Geist des Kommenden. Es wird an Kritik von vielen Seiten her nicht fehlen, ein Buch dieser Art muß notwendig auf Widerspruch stoßen. Doch wird es ihm auch nicht an Lesern fehlen, in denen es weiter wirkt und auf tausend unsichtbaren Wegen Zukunft bauen hilft.

Nach dem Typoskript im Nachlaß, Deutsches Literaturarchiv Marbach.