Paul Wegwitz: „Der Philosoph Leopold Ziegler“
„Philosophie ist kein Algebra-Exempel“ heißt es in Schopenhauers Abhandlung „Über Philosophie und ihre Methode“, in der Kants Definition, Philosophie sei eine Wissenschaft aus bloßen Begriffen, abgelehnt wird. Nein, so sehr auch der Kopf oben zu bleiben habe, so kaltblütig dürfe es dabei doch nicht hergehen, daß nicht der ganze Mensch am Ende durch und durch erschüttert werde. Man erinnert sich dieser Gegenüberstellung, wenn man das gesamte Werk des Philosophen Leopold Ziegler überblickt und darüber nachdenkt, was wohl als das kennzeichnende Allgemeine dieser Philosophie anzugeben sei. Sie ist, von ihrem Urheber aus gesehen ebenso wie ihrer Absicht und Wirkung nach, keine gelehrte Angelegenheit, sondern die Angelegenheit eines „durch und durch erschütterten“ Menschen. Man mag als Ursprung alles Philosophierens der Menschheit sowohl als auch des Einzelnen die Ergriffenheit von der Tatsache des Seins überhaupt ansprechen, die Verwunderung und den Schauder vor der Tatsache der Existenz als der „ewig erstaunlichen Zudeckung des Abgrundes des absoluten Nichts“, wie Scheler es einmal nennt, aber in den meisten Philosophien ist dieser Ursprungsort bald vergessen, der Abgrund ist durch das Bauwerk des Systems verdeckt, man spürt ihn nicht mehr. Beim Studium der Zieglerschen Philosophie wird man auf Schritt und Tritt an den erwähnten enthusiastischen Begriff der Philosophie erinnert. Temperament, Glut, Liebe schlagen uns auf allen Seiten entgegen, der heiße Atem des schöpferischen Eros durchglüht noch die diffizilsten logischen und erkenntniskritischen Erörterungen, in den verschlungensten Gedankengängen und tiefsinnigsten Untersuchungen abstraktester Art ist noch der stürmische Drang allerpersönlichsten Ringens mit den Problemen. Es gab seit Nietzsche kein Philosophieren von dionysischerem Charakter als dieses.
„Schließlich – was ist ein Philosoph, was ist Philosophie! . . . Philosophie, sinngemäß in deutsches Denken übertragen, heißt Weltverwurzeltheit, der Philosoph ist der Weltverwurzelte“. Mit dieser Antwort auf die oft gestellte Frage bekennt sich Leopold Ziegler zu den tiefen Gründen und Abgründen des Daseins, aus denen das philosophische Schaffen stammen muß, zur Identität mit allem was ist, zum Geheimnis des Seins; mit dieser Antwort lehnt er jede voreilige Beruhigung bei Theorien, Wertungen, Systemen ab, fordert er, daß eine Urverbundenheit des Ursprünglichen im Wesen des Philosophen mit dem Ursprünglichen im Wesen der Welt, des Persönlichsten mit dem Allgemeinen, des Atman mit dem Brahma vorhanden sei, wenn Philosophie mehr sein solle als eine Summa der Wissenschaften oder eine Kritik ihrer Methoden oder des Erkennens überhaupt; der philosophische Polyhistor oder Enzyklopädist ist nach dieser Definition so wenig Philosoph wie der philosophische Spezialist. Es ist nötig, daß das Zentrum der Persönlichkeit lebendig auf das Ganze der Welt reagiere, daß es im Tiefsten beunruhigt und erregt sei und unter dem Zwange stehe, sein Gleichgewicht vor der ungeheuren Rätseltatsache des Seins wiederzufinden.
In seiner „Selbstdarstellung“ (in dem großen und dankenswerten und für unsere Zeit höchst aufschlußreichen Sammelwerke „Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen“, Verlag Felix Meiner, Leipzig) berichtet Ziegler, wie er sich eines Tages vor einer verzweifelten Frage sah. Man hatte ihm seine Dissertation mit dem Bemerken zurückgegeben, daß man den deutlich zu bezeichnenden Punkt vermisse, wo er die Wissenschaft gefördert hätte. Dieser Einwand traf ihn. „Dies würde ich niemals können. Förderung der Wissenschaft – ein ehrenvolles Ziel, aber nicht das meinige. Für mich handelte es sich von Anfang an um etwas anderes. Was wollte ich, was mußte ich? Darauf fand ich keine Antwort“.
Ein dunkles Gefühl drängt den kaum zwanzigjährigen Frühreifen damals zu einer Auseinandersetzung mit der Welt im obigen Sinne, zu der er noch nicht reif, deren Forderung ihm noch nicht bewußt aufgegangen war. Die Reihe seiner Schriften von der „Metaphysik des Tragischen“ an bis zu seinem Buch über Hartmann, durch dessen Philosophie er über seinen Lehrer Drews hinweg beeinflußt war und von der er sich hier in stiller und vornehmer Weise löst, bis zu seinen an tiefen und schönen Einzelheiten überreichen Sammelbänden „Volk, Staat und Persönlichkeit“ und „Der deutsche Mensch“ sind Proben einer hervorragenden, von Simmel seinerzeit mit Freude und außerordentlicher Hoffnung begrüßten Begabung, in ihrem Problemkreis sind sie für den späteren Ziegler schon höchst bezeichnend, ebenso in ihrer Sinnesart und ihrer sprachlichen Formung; und doch sind sie vom heute übersehbaren Ganzen aus eigentlich nur die tastenden Versuche, sich an sein wahres Thema heranzufühlen, seine Fähigkeiten für die in ihm ebenso angelegte wie ihm auferlegte Aufgabe bis zur Meisterschaft zu üben. „Mein Weg hinab“ überschreibt er diese Periode des Suchens, die weniger eine Zeit des Ringens mit einem Problem als um ein Problem gewesen zu sein scheint.
Was war seine „im Unbewußten Richtung gebende Idee?“ Was wollte er, was mußte er? Mit Anlehnung an ein Wort Nietzsches könnte man antworten: am Mythos der Zukunft schaffen (. . .)
Der hier angedeuteten Aufgabe kommt es zugute, daß sich in Ziegler ganz offenbar zwei Begabungen kreuzen und im ganzen in einem glücklichen Gleichgewicht die Wage halten: die Gabe des Denkers und des Künstlers. Des Denkers von klarster Besinnung und Besonnenheit, zuchtvollster und sauberster begrifflicher Distinktion, aufs tiefste und peinlichste an aller gewesenen und heutigen Philosophie geschult, mit einer Meisterschaft im Schürzen und Entwirren gedanklicher Knoten, mit einer Lust am langen Atem logischer Untersuchung wie am Verfolgen der Probleme in ihre feinste Verästelung. Man soll um Gottes willen nach dem weiter oben Gesagten nicht glauben, daß man es hier mit einer der halbschürigen Bildungen aus der Demimonde von Essayistik, Journalistik, Populärphilosophie und poetisierend philosophisch-prophetischer Schwärmerei zu tun habe. Alle Maße, die man gewöhnt ist, an ernste wissenschaftliche Arbeit zu legen, soll man beibehalten. Was man aber trotzdem und überdies noch findet, ist das der anderen Begabung verdankte: die Darstellungskraft, die in das Dasein des Gebildes gleichzeitig die „Magie des Bildens“ mit eingehen läßt, die die Ergriffenheit spürbar macht, die uns verrät, wie das gedankliche Ringen nicht eine theoretische Angelegenheit, sondern Angelegenheit des ganzen Menschen ist. „Man erwartet einen Autor und findet einen Menschen“, heißt es in Pascals Gedanken. Es muß jedem Leser der Zieglerschen Bücher überaus verständlich erscheinen, wenn er bekennt, daß ihm „Künstler, bildende und bauende, erzählende und denkende, immer noch die einzigen Menschen seien, bei denen er es auf die Dauer ausgehalten und die es auf die Dauer mit ihm ausgehalten haben“. Und es ist so sehr bezeichnend, daß von allen seinen früheren Büchern, denen er sonst völlig frei und zum Teil mit leiser Ironie gegenübersteht, gerade eins ihm noch am Herzen liegt und er von ihm mit einer fast zärtlich überquellenden Dankbarkeit es erleben und schreiben zu dürfen, spricht: Die „Florentinische Introduktion zu einer Philosophie der bildenden Künste“. „Vielleicht“, schließt dieses Buch, das aus der Sphäre der gaya szienza stammt, in der es keine Sünde ist, auch Schwieriges graziös zu behandeln, „vielleicht wäre es gar nicht so töricht, in unserem sonderbaren Wechselspiel von Sehen und Grübeln den vielgeliebten Augen den heiteren Sieg zu überlassen“.
Der unverkennbar künstlerische Zug seines Wesens macht es auch erklärlich, daß die beiden Hauptwerke bei einem Umfange von ungefähr je tausend Seiten nicht ungenießbare Ungeheuer geworden sind, daß bei einem offensichtlichen Hange zur Breite, die uns um der Nuance des Gedankens oder der Form willen ungern etwas erläßt, bei dem Hange zur Versonnenheit und Versponnenheit und zur „unendlichen Melodie“, bei seiner Fähigkeit, Entlegenstes synoptisch zu sehen, bei seiner unruhig bohrenden Tiefe und Gründlichkeit, bei der Fülle von Gedanken und Gesichten, die ihm aus Eigenem und Fremdem zuströmen, daß ihm trotz all dieser Wesenseigentümlichkeiten, die ihn unter den lebenden Philosophen zu einer repräsentativ deutschen Gestalt machen, seine Werke nicht ins Formlose zerrinnen. Wohl herrscht in ihnen ein gefährlicher bauender und zusammenfügender Überschwang; aber ein nie erlahmender Gestaltungstrieb, ein Formgewissen, das sich vielleicht an den erwähnten zentrifugalen Kräften wund reibt, hält auch hier eine glückliche Wage. Das Resultat ist nicht die kristallene Form der einfachen und unerbittlich großen und steilen Linie, aber eine uns Deutschen doch recht nahe gewachsene des unendlichen Strebens, des Geheimnisses und der gebrochenen Lichter: Gotik.
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Leopold Ziegler sieht seine drei Hauptwerke, den „Gestaltwandel der Götter“, den „Ewigen Buddho“ und „Das Heilige Reich der Deutschen“ als eine innerliche Einheit; er gibt ihnen zusammenfassend den Namen „Zeitlose Zeitschriften“. Man kann die Meinung dieses Titels so deuten: es sind Bücher, aus tiefster Not und einem unerbittlichen Bedürfnis der Zeit emporgewachsen; sie sind, ob auch ein Mensch der Zeit sie erspürt und erlitten, sich abgerungen und abgemüht hat, ob auch, wie oben ausgeführt, das ihr höchster Adel und ihre überwältigende und seltene Schönheit ist, wie tief sich in ihnen ein Einzelner offenbart, wie restlos er sich hingibt, wie bewegt und unverwechselbar seine Stimme in ihnen spricht: daß trotz dieses unvermutet und überraschend Persönlichen ihrer Fühl- und Denkweise und Sprache, doch dieser Einzelne sich als Mundstück und Sprachrohr eines Größeren fühlt, durch das ein Ewiges, Zeitloses redet. Nicht möchte aber dies bedeuten, daß sie zeitlos in dem Sinne sein müßten, in dem so viele große Leistungen es zum schwersten Leide ihrer Schöpfer waren, daß sie ihre Zeit nicht fanden, daß erst eine spätere Zeit gutzumachen hatte, was, in Ansehung des Werks nicht leicht, in Ansehung ihres Urhebers oft sehr bald zu spät sein dürfte.
Abgesehen hiervon bindet die drei Werke noch ein innerliches Band eng aneinander. Es ist eigentlich nur ein Problem, allerdings das zentrale Problem der Menschheit schlechthin, um das in diesen Büchern gerungen wird: das Problem der Religion. Sie stammen, so seltsam ihre Resultate in bezug auf das Religiöse auch sind, so ketzerisch und furchtbar für manche Ohren die furchtlos gezogenen Konsequenzen aus der Lage der Zeit auch zu hören sein mögen, sämtlich aus den Urgründen der Seele, aus denen Religion von jeher wurde und immer noch wird.
Die Horen 3 (1926/27) H. 3, S. 276 – 280.