Gerhard Wehr: „Überlieferung“
„Ein Zeitalter, welches das Nicht-Vergeßliche – griechisch: Alétheia, die Wahrheit – so gründlich vergaß wie das unsrige und überdies von einem Überlieferungsbruch zum andern taumelt, bis nichts mehr zu vergessen und nichts mehr zu erinnern ist – ein solches Zeitalter muß wohl oder übel mit dem ABC wiederbeginnen . . .“.
Dieser Satz aus dem Buch „Überlieferung“ markiert die Situation und deutet den methodisch einzuschlagenden Weg an, den Ziegler gewiesen und selbst beschritten hat. Das Versprechen, die Sache „leicht“ zu machen und so etwas wie einen Königsweg anbieten zu können, macht der Verfasser an keiner Stelle. Seine Leser wissen das. Sein barocker, um nicht zu sagen: altväterlich anmutender, Distanz, wenn nicht Befremdung erzeugender Sprachgestus will erst eingeübt werden. So auch in diesem Werk.
In drei Akten führt er hier an die Überlieferung heran: im Buch des Ritus, dem Buch des Mythos und dem Buch der Doxa.
Im Buch des Ritus kommt er auf den „homo magus“ zu sprechen, hier verstanden als der Frühmensch, der mittels der „Ahmung“, d. h. der beschwörenden Einflußnahme, auf die Wesen und Mächte seiner Mitwelt einwirkt. Es ist gleichsam die Erscheinungsform einer urtümlichen Religiosität. Sie ist nicht etwa abgestorben. Vielmehr fließt aus diesem Quellgrund ein unterirdischer Strom, durch den alle spätere Religiosität, alle nachgeformte Weisheit gespeist wird. Aus ihm schöpfen alle Nachgeborenen, es seien Wissende, Meister, Propheten, Heilbringer. . .
Von Männern wie Guénon oder Evola unterscheidet sich Ziegler dadurch, daß er – im abschließenden Buch der Doxa – sein Denken einmünden läßt in die „Signatura Crucis“, das Zeichen des Kreuzes. Hatte er in den ersten beiden Werksteilen Ritus als heilige Handlung, Mythos als heilige Geschichte verstanden, so begreift er Doxa – von Platon, mehr noch vom Neuen Testament her – als heilige Lehre; natürlich nicht mißzuverstehen als eine von außen kommende Belehrung.
Um dieses Mißverständnis gar nicht erst aufkommen zu lassen, fügt er hinzu, daß Wort und Begriff von Doxa auch über die Lehre der Rechtgläubigen weit hinausweist: „Nach evangelischem Sprachgebrauche nämlich hinausweist auf die unmittelbare Selbstvergegenwärtigung desselben Heiligen, welches Vorwurf und Gegenstand der heiligen Geschichte und der heiligen Handlung ist – hinausweist mithin auf die Selbstvergegenwärtigung des Gottes als solchen“.
Das damit Gemeinte umkreist Ziegler, indem er ein Grundwort der hebräischen Mystik einfügt: Schechina; in der Kabbala ist sie Ausdruck der lichttragenden Gottesgegenwart auf Erden. Sie ist eben qualitativ mehr als bloße „Lehre“, insofern „sie sich selbst bezeugendes und sich selbst beglaubigendes Ereignis ist“: „Doxa“, „Schechina“ als das keinen Vergleich duldende Lichtereignis. Wir bewegen uns in der Sphäre der Verklärung des Christus.
Und in der Tat meint Leopold Ziegler durch die Beschwörung mit dem „Zeichen des Kreuzes“ keinen anderen als ihn, den letzten Adam (Eschatos Adam), den Repräsentanten des „ewigen Menschen“. Von ihm kann legitimerweise nicht gesprochen werden, ohne daß von der Begegnung des Männlichen und des Weiblichen die Rede ist. Ziegler führt an dieser Stelle – wohl zum ersten Mal innerhalb seines Gesamtwerkes! – die „Große Mutter“ (Magna mater) ein: Vater-Gott, Sohn-Gott und Geist-Gott in der Gestalt der göttlichen Sophia, vervollständigen das dreieinige Gottesbild. Daß die göttliche Sophia hier erscheint, kann nicht verwundern, bedenkt man, daß Leopold Ziegler aus der Schule eines Jakob Böhme kommt und bei dem großen Böhme-Schüler des 19. Jahrhunderts, Franz von Baader, gelernt hat. Und Böhme ist es gewesen, der – als Protestant lutherischer Prägung! – in einzigartiger Weise das Sophienbild in der westlichen Christenheit enthüllt hat – zum Entsetzen, mehr noch, zur Beglückung von vielen. Mit einem Wort: Ziegler hat in seinem Werk „Überlieferung“ die Überlieferung selbst zitiert, einsichtig und transparent gemacht von Christus her, auf Christus hin. Und diese seine „Christologie“ lässt die kurzatmige jesuanische Theologie weit hinter sich, die außer dem edlen „Mann aus Nazareth“ bestenfalls noch einen „Christus“-Überbau aus geschichtlich bedingten Bekenntnisschriften zu kennen scheint. Aber spricht aus Zieglers Schau nicht die immer wieder kirchlich indizierte Gnosis? Ist dies nicht Schwärmerei, Ketzerei? In einem: gnostische Esoterik?
In der Tat ist der Autor von derlei Beschuldigungen nicht verschont geblieben. Unter dem Pseudonym Hermann Fichtner ließ Alois Dempf 1936 den Autor wissen: „Es war die Feststellung, daß ich den esoterischen Kern dessen, was Sie integrale Tradition nennen, nicht für die reine göttliche Wahrheit halten kann, nur für eine identitätsphilosophische Metaphysik“. Und der Jesuit Erich Przywara verwies Zieglers Bemühungen in den Bereich des Menschen, d. h. von dem „ewigen Menschen“, zurück auf den ersten Adam, auf den des Heils bedürftigen, weil gefallenen Menschen.
Doch der Autor von „Überlieferung“, der sich zumindest in der Reife seiner Jahre als Glied der „unsichtbaren Kirche“ verstanden hat, empfing auch viel Ermutigendes, etwa von Reinhold Schneider, der ihm im August 1936 schrieb, indem er den „wunderbaren Einklang zwischen Überlieferung und Christentum, der das ganze Buch durchtönt“ empfand; und zwar „als die größte Wohltat, die ich seit langem empfangen habe; es ist ein Besitz, der mir bleiben wird, so wie ich auf’ Schritt und Tritt beim Weiterwandern Ihr Schuldner gerne und dankbar geworden bin. . .“
Daß Ziegler auf den Schultern anderer steht, auch wenn sie in der Anwendung der traditionalen Methode einen Weg beschritten haben, der nicht der seine sein konnte, versteht sich von selbst. Einen nennt er wiederholt. Es ist René Guénon. Er beruft sich auf seine Schriften, die er „in vielerlei Hinsicht als epochal bewertet“, und nennt ihn „ohne Vorbehalt unsern Gewährsmann“.
Gerhard Wehr, Spirituelle Meister des Westens. ©1995, Diederichs Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, S. 186 – 189.