Rudolf Hagelstange: „Auf der Suche nach dem Sinn“
Zum 75. Geburtstag Leopold Zieglers
Der zarte Körper des erst kürzlich wieder von schwerer Krankheit genesenen Philosophen, dessen 70. Geburtstag wir vor fünf Jahren im alten Rathaussaal seines Wohnortes Überlingen festlich begingen und der – als „Anachronismus und Fossil eines freien Schriftstellers und Forschers“ – dabei eine zu Herzen gehende Formel des wortlosen Dankes fand, beherbergt auch heute noch einen ruhelos schaffenden und denkenden Geist, der, ungeachtet aller diffusen Scheinwerfereffekte (die ihn selbst kaum noch einbeziehen), unermüdlich nach Weisheit und Einsicht strebt und zwischen den Trümmern des Gesetzlosen nach dem Gesetz gräbt. Seit seinem ersten bedeutenden Werk, dem „Gestaltwandel der Götter“ (1922), sind wesentliche Bücher auf uns gekommen: „Das heilige Reich der Deutschen“ (1925), „Zwischen Mensch und Wirtschaft“ (1927), „Überlieferung“ (1936), „Apollons letzte Epiphanie“ (1937), „Menschwerdung“ (1943) und die letzthin bei Kösel erschienene „Spätlese“. Eine Dank und Ehrfurcht herausfordernde Lebensleistung bietet sich dar – aber der Geist, der schöpft und schafft, kennt wohl nur einen Schlußstrich: den Tod.
Auch das Wort vom Geist, der sich seinen Körper baut, wird von uns Heutigen längst als Euphorie, als legendäre Illusion abgetan. Und doch gibt es lebende Beispiele unter uns für dieses Wort: den 82jährigen Rudolf Kassner, dessen intellektuelle und seelische Präsenz des gelähmten Körpers spottet; und eben – ganz anders von Temperamenten geartet – Leopold Ziegler. Auch ihn befiel – in jungen Jahren schon – ein schweres körperliches Leiden, eine Hüfttuberkulose, die ihn jahrelang zum Gebrauch von Krücken zwang. Er überwand aber, nicht zuletzt durch die Gemeinschaft mit einer großartigen Frau, die ihn als Kranken heiratete und die er 1940 verlor, die äußersten körperlichen Hemmnisse und lernte wieder gehen, wenn auch mit verkürztem Schritt. Ein unerbittlicher Geist schrieb dem geschwächten Leibe sein Gesetz vor, und ein Leben des Opfers gestattete ihm seine Leistung, seine Frucht.
Aber – es gibt eigentlich keine Berechtigung, in der Vergangenheitsform zu sprechen. Bis zu seiner Erkrankung im August des verflossenen Jahres galt der gewohnte tägliche Arbeitsplan, und die seither immer fortschreitende Genesung ist ebenfalls ohne die Unerbittlichkeit des Geistes nicht denkbar. Immer arbeitend, geht der 75jährige bis an die Grenze seiner Kraft. Wenn die Blutwärme auf 35 Grad sinkt, gibt die Natur sozusagen Alarm und eine Ruhepause ist geboten, die gleicher Disziplin unterworfen ist. Ist die Norm wieder hergestellt, beginnt der gleiche Tageslauf von neuem: ab 9 Uhr morgens die eigene Arbeit, die bis zum Mittagessen andauert. Danach eine kleine Pause, die meist mit dem Vorlesen der wichtigsten Tageszeitung ausgefüllt ist. (Ziegler muß sich vorlesen lassen, da ihn das Alter – bis auf ein letztes Viertel – der Sehkraft beraubt hat.) Das bedeutet, daß dieser Philosoph über jedes wichtige Tagesgeschehen auf dem Laufenden ist und daß er es sofort umsetzt in Urteil und Stellungnahme. Am Nachmittag dann ein einstündiger Spaziergang auf den Überlinger Höhenwegen, von dem er nur selten ohne Notizen zurückkehrt. Dann wieder Vorlesung, zumeist philosophische Lektüre: Altes und Neues. (In diesem Winter Schelling.) Ein geregelter „Stoffwechsel“ hält den Geist in steter Bewegung und nötigt ihn zur Ergiebigkeit.
Wer sich zuweilen wunderte, wie instinktsicher dieser Mann sich zu anfallenden Tagesfragen – z.B. der Auseinandersetzung um den PEN, der Rechtschreibreform usw. – verhalten und geäußert hat, trifft hier auf den Schlüssel zu dieser Sicherheit des Urteils. Diesem Philosophen vermochten und vermögen auch politische Konstellationen oder Umwälzungen nicht den Blick zu trüben; er huldigt nicht Vorurteilen oder Wunschvorstellungen, sondern erarbeitet sich die Kenntnis der Dinge und ordnet dann ein und zu.
Als ich ihn – vor etlichen Jahren schon – zum ersten Male besuchte und er über die teilweise Zerstörung seines Hauses sprach, die durch auf französischen Befehl erfolgte Sprengung von unterirdischen Stollen hervorgerufen wurde, in denen während des Krieges politische Häftlinge Zwangsarbeit leisten mußten, bewegte mich seine überlegene und zugleich bescheidene Haltung sehr. Er sagte etwa folgendes: „Ich habe dies (die Zerstörung seines Anwesens) hingenommen gleichsam als Abtragung einer Schuld. Ich bin ja gelegentlich auf der Straße einem Trupp der ausgemergelten Gestalten begegnet, wenn sie in die Höhlen geführt wurden, und hatte so Kenntnis und Anteil an dem, was geschah“. – Wer seine letzte, in der Stifterbibliothek (Salzburg) erschienene Schrift, „Edgar Julius Jung, Denkmal und Vermächtnis“ liest, weiß, daß von Schuld keine Rede sein kann. Hier handelt es sich um die freiwillige Haftung, zu der sich ein Deutscher bekennt, der einsteht für das, was geschah und das ihn eben – nach Goethes Wort – „anging“. In dieser Schrift findet sich übrigens der beherzigenswerte und für Ziegler bezeichnende Satz: „Es ist hoch an der Zeit, auch für die Geschichtsforschung so etwas wie einen Satz von der Unbestimmtheit anzuerkennen, wie ihn die gegenwärtige Mikrophysik bereits zur Geltung gebracht hat“.
Es bleibt nicht mehr und nicht weniger zu wünschen, als daß ein gutes Schicksal diesem unerbittlichen Schüler und Lehrer der Weisheit sein Alter segnen möchte und daß mehr Deutsche erkennen, was sie an diesem Manne besitzen.
Stuttgarter Zeitung, 28.4.1956.