Friedrich Gundolf: „An Leopold Ziegler“
Sehr verehrter Herr Doktor:
[. . .] Bei der Lesung Ihrer Bücher gilt es, für Menschen meiner Anlage, nicht nur das freudige Gewahrwerden Ihrer ungeheuren Wissensfülle und Ihrer Gewalt darüber, sondern auch – Freude und Kampf zugleich – die Bewährung der Geschichtsbilder vor der Geschichtsweisheit, vor der philosophischen Perspektive worin sie Ihnen erscheinen. Der uralte Kampf zwischen Philosophie und Historie (verwandt mit dem zwischen Philosophie und Dichtung) oder zwischen Sinnsuche und Bildsuche wird durch Sie wieder wach und hell, durch einen Philosophen, der die Geschichte genauer weiss als Historiker Philosophie zu kennen pflegen (wenn sie überhaupt ihrer mächtig oder ihr hörig sein dürfen ohne Gefahr des „historischen Sinns“). Was der Historie droht, wenn ein Philosoph sich ihrer als Zeichensprache bedient für die Aufhebungsakte der Historie, hat Hegel, selbst noch Nietzsche, gezeigt.
In Ihrem „Gestaltwandel der Götter“ bekundet sich eine Geschichtskenntnis, eine Geschichtszärtlichkeit fast, wie sie sogar bei Fachhistorikern selten, bei Philosophen ohne Beispiel ist . . und dennoch wollen auch Sie damit nicht die Gegenwart der Historienbestände, sondern deren Aufhebung in einem transcendenten Grund. Diese Spannung gibt Ihren Büchern eine Tiefe in die einzugehen den Historiker zugleich lockt und schreckt.
Gundolf Briefe. Neue Folge. Hg. von Lothar Helbing und Claus Victor Bock. Amsterdam 1965, S. 239.