Timo Kölling: Der Vorrang des Heiligen in Leopold Zieglers Spätphilosophie
Timo Kölling: Der Vorrang des Heiligen in Leopold Zieglers Spätphilosophie (1. Kapitel aus: Leopold Ziegler. Eine Schlüsselfigur im Umkreis des Denkens von Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger, Würzburg 2008. Bei diesem einleitenden Kapitel handelt es sich um die überarbeitete Fassung eines auf der Jahrestagung der Leopold-Ziegler-Stiftung vom 1. – 3. November 2007 in Freiburg gehaltenen Vortrags).
Einleitung
Das zentrale Werk der Spätphilosophie Leopold Zieglers, das „Lehrgespräch vom Allgemeinen Menschen in sieben Abenden“ (1956), ist als eine Erkenntnistheorie des Heiligen konzipiert. Zieglers Intention ist die Aktualisierung des Heiligen, des Absoluten, der Offenbarung unter den modernen Bedingungen des säkularisierten Bewußtseins. Seit Zieglers 1944 fertiggestelltem, aber erst 1948 veröffentlichtem vierten Hauptwerk „Menschwerdung“, einer zweibändigen Auslegung der sieben Bitten des Vaterunser, ist der von dem Religionswissenschaftler und evangelischen Theologen Rudolf Otto als erkenntnistheoretische Grundkategorie für die Erforschung des religiösen Bewußtseins geprägte Begriff des Heiligen bzw. des Numinosen1 der Grundbegriff von Zieglers Philosophieren im ganzen2. Ziegler würdigt Rudolf Ottos Buch als „theologisches Hauptwerk der letzten Jahrzehnte“3, an das es anzuknüpfen gilt, und nimmt damit in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, welche entgegen dem in ihr vorherrschenden Postulat, religiöse und ästhetische Formen der Erfahrung ernst zu nehmen, so eifrig wie nie zuvor in die vermeintlichen Grenzen ihres Fachs sich verschloß, eine Sonderstellung ein. Zu Zieglers Lebzeiten hat man das durchaus noch zu würdigen gewußt: an seinem siebzigsten Geburtstag am 30. April 1951 verlieh ihm die Universität Marburg, an der Rudolf Otto bis zu seinem Tod im Jahr 1936 gelehrt hatte, den Titel des Doktors der Religionswissenschaft. Ziegler wurde in der heute etwas befremdlich wirkenden Sprache der Zeit, zweifelsohne aber nicht zu unrecht, geehrt als „sachkundiger Kenner und Deuter der vorchristlichen und außerchristlichen Religionen“, als „tiefsinnender Wegbereiter und Neuschöpfer einer gegenwartsnahen christlichen Religionsphilosophie“ und als „weiser Hüter und Erneuerer des abendländisch-christlichen Kulturerbes“4.
Im folgenden soll nicht die Erkenntnistheorie des Heiligen, wie sie der späte Leopold Ziegler entwickelt, im einzelnen dargestellt werden. Vielmehr soll die Lektüre des Spätwerks, und im besonderen des „Lehrgesprächs“, vorbereitet werden, indem wir an seinen Anfang gelangen, dorthin also, wo man dieses schwierigste und noch unausgeschöpfte Buch Zieglers überhaupt erst mit Gewinn zu lesen anfangen kann, weil sich nunmehr das Gelesene auf den Hintergrund eines zureichenden Vorverständnisses projizieren läßt.
Zieglers Intention soll von ihren geschichtsphilosophischen Voraussetzungen her verständlich gemacht werden. Damit sind zwei nicht voneinander zu trennende, aber doch zu unterscheidende Dinge gemeint: (1.) Zieglers eigene Geschichtsphilosophie, bzw. sein eigenes, wie ich zeigen möchte, sehr reflektiertes Nachdenken darüber, was Geschichtsphilosophie überhaupt sein und leisten kann. Der wichtigste Befund kann an dieser Stelle vorab bereits zusammengefaßt werden: Zieglers Geschichtsphilosophie ist eine negative. Ziegler bietet das auf den ersten Blick paradoxe Bild eines Geschichtsphilosophen, der die Geschichte aufhebt, dessen These geradezu lautet: Es gibt keine Geschichte. (2.) aber meine ich die geschichtsphilosophischen Voraussetzungen von Zieglers Werk selbst, die Konstellation, wie man sagen könnte, die ihm seinen philosophiegeschichtlichen Ort anweist, ihm die Fragestellungen und Probleme diktiert, mit denen er es als Philosoph zu tun hat. Es geht also um die Erschließung des Denkraums, in den das Spätwerk Zieglers sich einschreibt.
Diesen Denkraum hat Ziegler durchaus auch selber thematisiert. Wie wichtig solche Kontinuität für ihn ist, die Selbstverortung in der Geschichte des Denkens, zeigt sich nicht zuletzt in der Wichtigkeit, die Namen für ihn haben. So gerne und oft Ziegler auf Eigenständigkeit pocht, so bescheiden ist er andererseits, wenn es darum geht, das Eigene auf schon Gedachtes, auf Elemente der Tradition zurückzuführen. Man könnte beinahe von einer kabbalistischen Zauberkraft sprechen, die Ziegler dem Namen zugesteht: mit der bloßen Nennung von etwas oder jemandem ist oft ein ganzer geschichtlicher Gehalt aufgerufen und angeeignet. Er ist, mit dem berühmten Wort Walter Benjamins gesagt, der ganz ähnliche Intentionen wie Ziegler verfolgte, „gerettet“.
Zieglers Spätwerk gehört in die Reihe jener auch heute noch zeitgemäßen philosophischen Entwürfe, die es um die Mitte des letzten Jahrhunderts unternahmen, den Anspruch der Philosophie auf ganzheitliche Erkenntnis, auf Letztbegründung des Wissens zu erneuern, wobei theologische Kategorien in ausgesprochener oder unausgesprochener Weise stets eine fundierende Rolle spielten. In der Verankerung der Philosophie in den metaphysischen Rahmen eines auf Ganzheit der Erkenntnis abzielenden Denkens besteht eine tiefe Verwandtschaft zwischen dem „Lehrgespräch“ Zieglers und wichtigen Werken Heideggers und Wittgensteins: den „Beiträgen zur Philosophie“, in denen Heidegger seine Kehre zum Seinsdenken vollzieht, sowie den „Logischen Untersuchungen“, in denen Wittgenstein nachzuweisen unternimmt, daß Denken und Sprache identisch sind, mit der metaphysischen Folge, daß das Sein des Menschen einzig als a priori sprachlich verfaßtes philosophisch gedeutet werden kann.
Einen solchen Entwurf, der auf das Ganze der menschlichen Erkenntnis abzielt, hat mit dem „Lehrgespräch“ auch Ziegler hinterlassen. Angesichts dessen, daß der integrative Grundbegriff bei ihm nicht das Sein oder die Sprache, sondern, zu seiner Zeit sicherlich bereits unzeitgemäß, der Begriff des Heiligen ist, hätte ihm, wenn er es gekannt hätte, sicherlich ein Wort des jungen Walter Benjamin gefallen. Dieser notierte 1914, im Alter von 22 Jahren: die „Elemente des Endzustandes“ – jene Werke und Gedanken also, die in ihrer menschenmöglichen Vollkommenheit das erwartete messianische Reich gleichsam vorwegnehmen – seien „als gefährdetste, verrufenste und verlachte Schöpfungen und Gedanken tief in jeder Gegenwart eingebettet.”5 Damit ist auf den Begriff gebracht, was sich auch über Ziegler wird sagen lassen: sein Werk liegt in so wesentlicher und tiefer Weise in seiner Gegenwart eingebettet, daß womöglich erst eine Erhellung des Gesamthorizontes dieser Gegenwart, eine Erhellung eben der Konstellationen, in denen sein Denken sich bewegt, ihn in seiner ganzen noch verborgenen Bedeutung wird erscheinen lassen.
Ich beschreibe im folgenden (1.) die geschichtsphilosophische Konstellation der Neuzeit und des 20. Jahrhunderts, vor deren Hintergrund das Werk Zieglers im ganzen erst verständlich wird. Es folgt (2.) eine Beschäftigung mit der Religionsphänomenologie Rudolf Ottos, der den Begriff des Heiligen zwar geprägt hat, mit seiner Intention, einer allen Erfordernissen philosophischer Rationalität genügenden Erkenntnistheorie des Heiligen, aber gescheitert ist. Von dort her ist (3.) die geschichtsphilosophische Ausgangslage des späten Ziegler zu kennzeichnen. Aus Ottos Scheitern ist die Konsequenz zu ziehen: Das Heilige läßt sich nicht naturalisieren und nicht vergeschichtlichen. Diese Grundeinsicht des späten Ziegler möchte ich mit Bezug auf Novalis verständlich machen, der sie als erster in aller Radikalität faßte, und der damit innerhalb dessen, was einleitend als geschichtsphilosophische Konstellation der Neuzeit thematisiert wird, einen völlig neuen, in der Folge verschütteten Denkraum öffnet, in den der späte Ziegler neu wieder vorstößt.
Die geschichtsphilosophische Konstellation
Was Ziegler eine Sonderstellung unter den Philosophen des 20. Jahrhunderts verschafft, ist der absolute Vorrang, den er religiösen, letztlich theologischen Fragestellungen in seinem Denken einräumt. Es gibt unter den Philosophen, soweit sie konfessionell nicht gebunden sind, nur einen, bei dem das in ähnlich radikaler Weise und mit den erstaunlichsten Übereinstimmungen der Fall ist: das ist der elf Jahre jüngere Walter Benjamin.
Nicht erst der späte Ziegler läßt durch diesen Vorrang des Religiösen sich charakterisieren, sondern bereits der frühe und früheste. So nennt Ziegler in einem Brief an Paul Ernst vom 9. November 1917 den erst drei Jahre später erschienenen „Gestaltwandel der Götter“ „mein religiöses Buch“, und kündigt Ernst bereits zwei Monate vorher „eine Art Religionsphilosophie“ an6. Aber auch schon der ganz junge Ziegler ist, wie jetzt in Band 6 der „Gesammelten Werke“ dokumentiert ist7, ein religiöser Denker. So schreibt bereits 1902 der gerade 21jährige präzise: „Die Religion ist … das Prius der Kultur“.8 Freilich bemüht der junge Ziegler sich, den Zeitumständen Rechnung tragend, diese Religion diffus genug als ein spezifisch arisch-germanisches Phänomen zu deuten. Man sollte sich davon aber nicht den Blick auf den Grundgedanken als solchen verstellen lassen. Er lautet: Religion läßt sich nicht auf ein allgemein „kulturelles“ Phänomen reduzieren, sondern Kultur ist immer erst Folge des Glaubens, des religiösen Lebens.
Vielleicht hat der junge Ziegler diesen Gedanken während der Lektüre von Jacob Burckhardts „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ gefaßt. Dort stellt Burckhardt dar, daß von den drei Grundelementen oder -potenzen des menschlichen Daseins, des Staates, der Kultur und der Religion, nur Staat und Religion „feste“ Elemente seien, während die Kultur als „flüssiges“ Element je nur im Zusammenhang mit den beiden anderen sich realisieren kann. Burckhardt wußte noch, daß der abstrakte Begriff einer „Kultur als solchen“ die ursprüngliche Bedeutung des Wortes verdeckt, wonach Kultur als cultura die Hege und Pflege von etwas ist, so daß es eigentlich widersinnig ist, einen selbständigen und abgesonderten „Kultur“-Bereich zum Wert schlechthin zu erheben. Zwar sagt das Burckhardt nicht so deutlich. Trotzdem lesen sich die „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ wie ein vorab verfaßter negativer Kommentar zu dem das ganze 20.Jahrhundert durchziehenden Kultur-Gerede. Vielleicht kannte der junge Ziegler das populäre Buch und erfaßte mit brillanter Intuition den entscheidenden Grundgedanken.
Die Reaktion des jungen Ziegler ist übrigens identisch mit der Reaktion des jungen Walter Benjamin, der sich 1914 mit ganz ähnlichen Äußerungen angeekelt von der Jugendbewegung zurückzog und den theologischen Motiven in seinem Denken fortan den Vorrang einräumte. Sie entspricht auch der religiösen Wende des dreißigjährigen Stefan George, der 1899 im „Vorspiel“ seines Buches „Der Teppich des Lebens“ das Ereignis einer Offenbarung schilderte und in den Jahren danach mit dem diffus heidnischen Treiben seiner Bekannten Ludwig Klages und Alfred Schuler brach.
Um die Radikalität dieser Reaktionen, das Angeekeltsein von aller bloßen „Kultur“ zu verstehen, muß man sich die Situation während der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts vergegenwärtigen. So schreibt, um nur eine einzige charakteristische Äußerung herauszugreifen, Hermann Broch mit Bezug auf den jungen Hofmannsthal: „Die Periode, in die Hofmannsthals Geburt fällt, [war] wohl eine der erbärmlichsten der Weltgeschichte; es war die Periode des Eklektizismus, die des falschen Barocks, der falschen Renaissance, der falschen Gotik. Wo immer damals der abendländische Mensch den Lebensstil bestimmte, da wurde dieser zu bürgerlicher Einengung und zugleich zum bürgerlichen Pomp, zu einer Solidität, die ebensowohl Stickigkeit wie Sicherheit bedeutete. Wenn je Armut durch Reichtum überdeckt wurde, hier geschah es.”9.
Die Verhältnisse, die Broch hier schildert, und die radikalen Reaktionen junger Menschen darauf, gründen aber letztlich in einer tiefer liegenden geschichtsphilosophischen Konstellation, von der man wird sagen können, daß sie das 20. Jahrhundert insgesamt geprägt und zu einem Zeitalter der Katastrophen gemacht hat. Diese Konstellation ist der unmittelbare Ausgangspunkt des späten Ziegler. Es ist – wie ich als These formulieren möchte – die vollständige Verborgenheit der Kategorie der Offenbarung hinter den Ausspiegelungen einer sich absolut setzenden menschlichen Vernunft. Diese Verborgenheit der Offenbarung, der Abfall des Menschen, der einst an ihr teilhatte, von ihr, ist das große Problem Zieglers. Man könnte sein Lebenswerk als den Prozeß der Klärung dieses Problems entziffern. Erst im Spätwerk, wird man dann feststellen müssen, hat es sich ihm in aller Schärfe gestellt.
Das wird im „Lehrgespräch“ sehr deutlich. Empfänger der Offenbarung, Träger des Heiligen ist für Ziegler der „Allgemeine Mensch“, der Homo Universalis, nicht also der Mensch in seinem alltäglichen So-sein, sondern der in der Fülle seines Wesens stehende Mensch, den Ziegler in seinem Buch „Überlieferung“ von 1936 als den Gegenstand mythischer Bilder und Schriften der verschiedensten Zeiten und Völker namhaft gemacht hatte. Jetzt aber, schickt Ziegler dem „Lehrgespräch“ einleitend voraus, „genügt es … nicht mehr, für die in etwa zu erneuernde Universitas Mundi den Homo Universalis urheberisch einfach so haftbar zu machen“10. Warum soll jetzt nicht mehr genügen, was Ziegler zehn, zwanzig Jahre zuvor noch proklamiert hatte? Deshalb, läßt sich sagen, weil Ziegler eingesehen hat, daß kein Mythos, daß keine religiöse Überlieferung der Welt dem abgefallenen, sich verschließenden Menschen der Moderne mehr etwas bedeuten kann. Deshalb hilft, so Ziegler, „keine noch so inständige Beschwörung urtümlicher Offenbarungswahrheiten weiter“11. Die Konstellation der vollständig verborgenen Offenbarung kann nicht durch einen Bezug auf die Geschichte aufgehoben werden.
Nun ist das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung das große Thema der neuzeitlichen Philosophie im ganzen. Es ist das Verhältnis zwischen der menschlichen Rationalität und dem, was sie übersteigt, worin sie aber ursprünglich und von je sich gegründet wußte: dem überrationalen Absoluten. Solange dieses Verhältnis zwischen natürlicher Vernunft und übernatürlicher Offenbarung ein feststehendes war, nämlich in dem Denkraum der Philosophia perennis, der geoffenbarten Weisheit des Ursprungs, durch die der Mensch an dem Wissen Adams vor dem Sündenfall teilhaben konnte, – in diesem ursprünglichen Denkraum konnte die Geschichte dem Menschen noch gar nicht zum Problem werden. Das bedeutet nicht, daß die frühere Menschheit, wie ein klassizistisches Vorurteil lautete, kein Geschichtsbewußtsein besessen hätte. Schon Platon dürfte sich des geschichtlichen Hintergrundes seiner Ideenlehre in aller Schärfe bewußt gewesen sein. Indem das Wissen des Menschen aber – und das gilt für christliches wie für nicht-christliches Bewußtsein – als ein überzeitliches sich wußte, als geoffenbartes, war das horizontale Kontinuum der Zeit immer schon aufgehoben in eine vertikale Ordnung der größeren oder geringeren Nähe zum Ursprung. Unser modernes Geschichtsbewußtsein hat seinen Grund in einer Erfindung, die zunächst nur dazu diente, ein solches Ordnungsinstrument zu sein: die Chronologie. Sie wurde im 16. Jahrhundert notwendig, als die Fülle des aus allen Teilen der Welt einströmenden Wissens nicht anders mehr bewältigt werden konnte als durch chronologische Sichtung. Damit war aber, zunächst unbewußt, die Grundordnung der Philosophia perennis erschüttert. An die Stelle des Maßstabes der Nähe zum Ursprung trat der Maßstab der Zeit, des reinen Ablaufs. Die absoluten Inhalte des geoffenbarten Ursprungswissens wurden zu Erscheinungen einer chronologisch verlaufenden Historie relativiert. Damit war nichts geringeres in Gang gesetzt als der Siegeszug des Historismus, der vollends das gesamte 19. Jahrhundert bestimmte12.
Dieser Siegeszug war vorbereitet worden durch die Historisierung der christlichen Glaubensgewißheiten im Prozeß der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Dieser Prozeß war kein anderer gewesen als die Abschaffung der Offenbarung im Namen der Vernunft. Im Zeichen des Rationalismus Christian Wolffs war das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung noch das traditionelle der Philosophia perennis geblieben. Die Vernunft begriff sich als geoffenbarte, ordnete sich als natürliche aber der übernatürlichen Offenbarung unter. Indem im Prozeß der Aufklärung die Vernunft sich absolut setzte, schied sie alle vermeintlich widervernünftigen Inhalte des Offenbarungsglaubens aus. Ein historisches, rational erklärbares, rein ethisch motiviertes Christentum war, zunächst in dem auf merkwürdige Weise geschichtswirksam gewordenen Raum des Protestantismus, an die Stelle der Philosophia perennis getreten. Die Wahrheit der Geschichte war an die Stelle der Wahrheit der Offenbarung getreten.
Der Historismus des 19. Jahrhunderts konstituierte sich nun aber in dem Raum einer ihm zumeist unbewußt bleibenden Paradoxie. Zum einen waren in ihm alle absoluten Inhalte eines überzeitlichen Wissens in relative Phänomene der reinen Historizität aufgelöst. In dem Raum dieser Auflösung konnte ihrerseits sich jene abstrakte, sinn- und folgenlose „Kultur“ einrichten, gegen welche der junge Ziegler dann sich wandte. Zum anderen entsprach diesem Geschichtsfetischismus auf höchst paradoxe Art und Weise ein Geschichtshaß, der sich darin äußerte, daß Geschichte zum Gegenstand von rationalen Konstruktionen wurde, die dem historischen Geschehen jeden Eigenwert raubten. Diese Paradoxie durchzieht den gesamten Historismus bis hin zu Friedrich Meinecke, und sie bestimmt auch noch die Kulturphilosophie Oswald Spenglers.
Die untergründige Geschichtsfeindschaft des Historismus entstammte einer wissenschaftlichen Methodologie, die den Naturwissenschaften entnommen war. Diesen, in ihrer Objektivität, sollte nun auch die Geschichtswissenschaft sich angleichen. Geschichte durfte also nicht ein sinn- und zweckloses Geschehen sein; es mußte, ohne daß man damit in den Raum der Philosophia perennis zurückkehren konnte oder auch nur wollte, historische Gesetzmäßigkeiten geben, die es bei entsprechendem Fortschritt in der Erkenntnis sogar ermöglichen würden, eines Tages Aussagen über die Zukunft zu treffen. Deutlicher konnte nicht werden, daß die Vernunft keineswegs deshalb die überrationalen Offenbarungsgehalte von sich ausgeschieden hatte, um sich, wie Kant es angestrebt hatte, auf ihre Grenzen zu beschränken, sondern im Gegenteil, um nun ihrerseits mit der ganzen Würde einer Offenbarungswahrheit, einer Erkenntnis des Absoluten aufzutreten.
Demgegenüber war der Primat der echten Offenbarung in den Raum einer unfreiwilligen Esoterik abgedrängt worden. Außerhalb der religiösen Orthodoxien vertraten ihn nur halb obskur gebliebene Philosophien wie die des späten Schelling und Franz von Baaders. Außerdem Franz Joseph Molitor in seinem vierbändigen Werk „Philosophie der Geschichte oder über die Tradition“ und Salomon Ludwig Steinheim in seiner ebenfalls vierbändigen Arbeit „Die Offenbarung nach dem Lehrbegriffe der Synagoge“. Sind Schelling und Franz von Baader für den späten Ziegler bedeutsam geworden, so haben die obskuren Werke Molitors und Steinheims auf Gershom Scholem und Walter Benjamin gewirkt. Eine Geheimgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, deren Thema die esoterische Kontinuität des Primats der Offenbarung zu sein hätte, ist, soweit ich sehe, noch von niemandem geschrieben worden.
Zusammenfassend läßt sich über das Zeitalter des Historismus sagen: die Erfahrung des Menschen war bis in den Alltag hinein verkümmert. Im Jahr 1911 polemisierte Ziegler in einem Aufsatz mit dem Titel „Über einige Begriffe der ‚Philosophie der reinen Erfahrung‘“13 gegen einen Erfahrungsbegriff, der, wie Ziegler sagt, „das Erkennen der Rückführung von Unbekanntem auf Bekanntes gleichsetzt“. Das ist sehr präzise gesehen, denn indem die Vernunft Unbekanntes auf Bekanntes zurückführt, vernichtet sie ja die Möglichkeit des Eintreffens eines Anderen ihrer selbst, eines Unvorhergesehenen, Transzendenten. Auch dies ist eine bemerkenswerte Parallele zu Walter Benjamin, dessen Arbeiten ab 1914, dem eigentlichen Beginn seiner Autorschaft, unaufhörlich um das kreisen, was er den modernen „Nullpunkt der Erfahrung“ nennt. Demgegenüber sah er es, wie Scholem in seinen Erinnerungen schreibt, als seine Aufgabe an, den „Umfang echter Erfahrung“ auszuloten14. Noch 1933 finden diese Reflexionen ein spätes Echo in einem Aufsatz „Erfahrung und Armut“ [15], in dem er der Erfahrungsarmut des bürgerlichen Zeitalters das „neue Barbarentum“ der pseudo-religiösen Hitlerwelt entsteigen sieht, die religiöse Erfahrungen nicht macht, sondern nachäfft und fingiert.
Es lohnt sich, alldas sich zu vergegenwärtigen, bevor man sich mit Zieglers Spätphilosophie beschäftigt. Besonders im „Lehrgespräch vom Allgemeinen Menschen“ nimmt der Begriff der Erfahrung, als Erfahrung des Heiligen verstanden, dessen Sphäre zuallererst den Raum als solchen aller unserer wirklichen und möglichen Erfahrungen konstituiert, eine ganz zentrale Stellung ein. Die geschichtsphilosophische Konstellation des 20. Jahrhunderts, die vollständige Verborgenheit des Primats der Offenbarung, ist der Spätphilosophie Zieglers tief als Problemstellung eingeschrieben.
Nun ist der Begriff des Heiligen – damit leite ich zum nächsten Abschnitt über – der Religionsphänomenologie Rudolf Ottos entnommen. Ziegler übernimmt nicht äußerlich ein beliebiges Wort, sondern appliziert den Begriff des Heiligen seiner Philosophie in der ganzen erkenntnistheoretischen Dimension des Begriffs. Ottos religionswissenschaftliche Konzeption und ihr letztliches Scheitern sollen ausführlich dargestellt werden, denn 1. ist dieses Scheitern der Grund, warum der späte Ziegler mit dem Begriff des Heiligen auch einen ganzen ungelösten und sehr interessanten Bestand von Fragen übernimmt; 2. läßt sich auf diese Weise in methodischer Verkürzung einholen, was im Rahmen dieser einführenden Bemerkungen als solches nicht geleistet werden kann: eine Darstellung der in Zieglers „Lehrgespräch“ entfalteten Erkenntnistheorie. Sie entspricht nämlich Ottos Konzeption genau, versucht aber ihren großen Fehler, die Psychologisierung und damit Naturalisierung und Vergeschichtlichung des Heiligen, zu vermeiden
Rudolf Ottos Phänomenologie des Heiligen
Rudolf Ottos wissenschaftliche Intention ist es gewesen, einen gemeinsamen Nenner aller Religionen, der theistischen wie der nicht-theistischen, zu finden. Die Entdeckung, daß es Religionen ohne Gottesbegriff gibt, von denen eine, der Buddhismus, sogar den Rang einer Weltreligion einnimmt, machte ein solches Unternehmen erforderlich. Otto, der damit ungeheure Popularität erlangte, glaubte, diesen gemeinsamen Nenner aller Religionen in der Erfahrung einer übernatürlichen Realität gefunden zu haben, die er das „Heilige“ bzw. das „Numinose“ nannte. Wenn Ziegler mit seiner Rede von den „Mysterien der Gottlosen“ in den zwanziger Jahren ebenfalls erfolgreich war, dann verdankte er das nicht allein Nietzsche, sondern auch Otto, der das Publikum mit dieser Fragestellung bereits vertraut gemacht hatte.
Der ungeheure Erfolg von Rudolf Ottos Buch „Das Heilige“ und, in merkwürdigem Widerspruch dazu, die völlige Wirkungslosigkeit seiner wissenschaftlichen Intentionen gründen in dem Umstand, daß das Buch, als es noch während des ersten Weltkriegs erschien, sogleich als Äußerung einer spezifisch „deutschen“ Religiosität gefeiert wurde, die man gegen einen als spezifisch „westlich“ diffamierten Rationalismus ausspielen zu können glaubte. Dieses Fehlurteil wirkt bis heute nach. So heißt es zum Beispiel in dem Buch „Homo sacer“ des italienischen Philosophen Giorgio Agamben: „Hier [bei Otto] feiern eine Theologie, der jeglicher Sinn für das offenbarte Wort abhanden gekommen ist, und eine Philosophie, die angesichts des Gefühls alle Nüchternheit verlassen hat, ihre Vereinigung in einer Vorstellung des Heiligen, die nunmehr eins ist mit dem Dunklen und dem Undurchdringlichen. Daß das Religiöse vollständig in die Sphäre der psychologischen Emotion falle und daß es ganz wesentlich mit dem Schauder und der Gänsehaut zu tun habe, das ist die Trivialität, welcher der Neologismus ‚numinos‘ den Anstrich von Wissenschaftlichkeit verpassen soll.“16.
Nun ist es aber, zunächst wenigstens, keineswegs Ottos Auffassung, daß, wie Agamben sagt, „das Religiöse vollständig in die Sphäre der psychologischen Emotion falle.“ Vielleicht hätte Otto seine Intention schon im Untertitel des Buches präziser zum Ausdruck bringen sollen. Er lautet: „Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen.“ Damit ist, wie dann auch aus den ersten Seiten des Buches klar hervorgeht, keineswegs angestrebt, die Religion insgesamt zu irrationalisieren. Das Rationale ist hier nicht als das Andere der Religion begriffen, sondern als integrales Moment des Religiösen selbst. Es geht also um eine Verhältnisbestimmung innerhalb der Religion, keineswegs um eine Abgrenzung der Religion insgesamt gegen das Rationale. Das Heilige als religionswissenschaftliche Grundkategorie ist als die Summe der rationalen und irrationalen Momente der Religion gedacht. Damit wird Religionswissenschaft unter Ottos Händen eigentlich zu dem philosophischen Unternehmen einer Erneuerung der Philosophia perennis, deren Grundzug es ja war, Vernunft und Offenbarung unter dem Primat der letzteren zusammenzudenken. Genau dies ist Ottos Intention.
Daß Rationalität ein wesentlicher Bestandteil des Glaubens ist, zeigt sich für Otto darin, daß wir imstande sind, der Gottheit rationale Prädikate beizulegen, die wesentliches erfassen. Begriffe wie Geist, Wille, Allmacht, Vernunft sind hier gemeint. Nun erschöpfen aber die rationalen Prädikate für Otto „die Idee der Gottheit so wenig, daß sie geradezu nur von und an einem Irrationalen gelten und sind.“17. Nur als Zeichen für Irrationales sollen die rationalen Prädikate folglich Geltung und Wahrheit haben.
Dieses Irrationale aber muß nun, argumentiert Otto, seinerseits irgendwie auffaßbar sein, und zwar auf nicht-verstandesmäßige Weise. Wäre das nicht so, könnte von ihm schlechterdings überhaupt nichts ausgesagt werden, es würde den Menschen überhaupt nicht affizieren. Die Erfahrungen vor allem der Mystiker und der Propheten beweisen aber das Gegenteil. Diese Menschen bedienen sich der Sprache, um auszusagen, was in der Sprache eigentlich nicht ausgesagt werden kann. Dieses letztlich nicht aussagbare, aber erfahrbare irrationale Moment des Göttlichen nennt Otto mit der berühmt gewordenen Wendung das „Numinose“. Dieses Wort bezeichnet das tiefste, irrationale Moment in der Kategorie des Heiligen.
Otto geht von einem spezifischen Vermögen im Menschen aus, das diese irrationalen Qualitäten zu erfassen imstande ist. Dieses Vermögen nennt Otto den sensus numinis. Durch ihn sollen wir imstande sein, eine Kategorienlehre der irrationalen religiösen Erfahrung zu entwickeln, die den rationalen Kategorien genau analog ist, jedoch mit deren rein verstandesmäßiger Deduktion nicht sich berührt. Dieser Kategorienlehre gehören die ebenfalls bekannt und gebräuchlich gewordenen Begriffe etwa des mysterium tremendum und des mysterium fascinans an, des Göttlichen also in seiner doppelten Qualität des Schrecklichen und Furchteinflößenden einerseits, des Faszinierenden und Anziehenden andererseits. Diese irrationalen Kategorien der religiösen Erfahrung sind als objektive Reflexmomente des Göttlichen in unserer Seele gedacht.
Die zentrale Stellung, die Otto seiner Konzeption des sensus numinis einräumt, erinnert stark an die Stellung des Systems des Unbewußten in der Psychologie Freuds. Freuds Unbewußtes war aber ursprünglich als ein rein formaler, heuristischer, das heißt: das Erkennen anleitender Begriff gedacht, der nicht selber Gegenstand der Erkenntnis sein kann. Er sollte als Erklärungsgrund psychischer Phänomene dienen, keineswegs selber ein psychisches Phänomen von inhaltlicher, materieller Konkretion sein. Mit diesem Anspruch auf volle materielle Erkenntnis – und das ist das Problematische – treten nun aber Ottos Begriffe des Numinosen und des sensus numinis auf, und dadurch rückt Ottos Konzeption entgegen ihrer Intention tatsächlich in die Nähe jener Psychologisierung von Religion, die Agamben an ihr kritisiert. Seine Konzeption nennt sich zwar phänomenologisch und behauptet wie Husserls „Wesensschau“ eine Unabhängigkeit von aller bloßen Psychologie. Otto scheitert aber daran, daß er nicht glaubhaft machen kann, in welcher Form sich die objektiven Phänomene der religiösen Erfahrung von den psychologisch zu deutenden bloßer Subjektivität unterscheiden.
Rudolf Otto hat den Kritikern, die darauf ihren Finger legen, tatsächlich alle Tore geöffnet. Gleich zu Beginn seines Buches stehen Sätze, deren sinnvolle Intention außerfrage steht, die aber den Verdacht des Psychologismus keineswegs zu zerstreuen geeignet sind, zumal er hier entgegen seiner im eigentlichen Sinne phänomenologischen Intention den Begriff der Religionspsychologie auch selber gebraucht. Die Sätze lauten: „Wir fordern auf, sich auf einen Moment starker und möglichst einseitiger religiöser Erregtheit zu besinnen. Wer das nicht kann oder solche Momente überhaupt nicht hat, ist gebeten, nicht weiter zu lesen. Denn wer sich zwar auf seine Pubertäts-gefühle, Verdauungs-stockungen oder auch Sozial-gefühle besinnen kann, auf eigentümlich religiöse Gefühle aber nicht, mit dem ist es schwierig, Religionspsychologie zu treiben.“18.
Die überaus fatale Wirkung dieser Sätze läßt sich anhand einer Anekdote demonstrieren, die Gershom Scholem in seiner Autobiographie erzählt. Bevor Scholem 1923 nach Palästina auswanderte und in Jerusalem zum berühmten Erforscher der Kabbala wurde, hatte er an verschiedenen Orten Deutschlands Mathematik und Philosophie studiert. Husserls „Logische Untersuchungen“ hatten ihn beeindruckt. Das Interesse an der Phänomenologie erlosch indes schlagartig in den Vorlesungen des Husserlschülers Wilhelm Pfänder. Scholem schreibt: „Er brachte es fertig – ich bin dabei gewesen – in öffentlicher Vorlesung die Existenz Gottes (an der ich nie gezweifelt habe) auf phänomenologische Weise sichtbar zu machen: er hörte auf zu sprechen, schloß die Augen und verharrte in tiefem Schweigen.“19.
Nun will Otto, so sehr er auch mitverantwortlich für solche Veranstaltungen gewesen sein mag, keineswegs an jedem beliebigen Alltagsgefühl ein religiöses Moment aufweisen. Otto versucht nichts geringeres, als den Punkt ausfindig zu machen, an dem das Gefühl, die seelische Struktur des Menschen als ein nicht mehr psychologisch erklärbares, nicht mehr rein innerliches, nicht mehr subjektives Phänomen sich erweist. Den Punkt also, an dem es in sich selbst auf einen ihm selbst gleichsam nicht mehr angehörigen Grund stößt, der in seiner unmittelbar evidenten Objektivität dem Ich die Nichtigkeit seiner bloßen Subjektivität vorführt. Dieser, wie man sagen könnte, Grund des Ichs außerhalb des Ichs, der dem Gefühl sich offenbart, gerade indem er es an die äußerste Grenze dessen stoßen läßt, was überhaupt Gefühl genannt werden kann; dieser Grund kann, so Otto, da er unter nichts sich subsumieren läßt, was ansonsten unserem Erfahrungskreis angehört, nur ein göttlicher Grund sein. Otto nennt diesen göttlichen Grund, das Numinose in der ganzen Dimension seiner Irrationalität, deshalb auch das „Ganz Andere“.
Zur näheren Bestimmung des Gefühls, in welchem das Ich an seine äußerste Grenze stößt, bezieht Otto sich auf Friedrich Schleiermacher. Dieser hatte in seiner Schrift „Über die Religion“ das, was aller religiösen Erfahrung gemeinsam sei, als „schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl“ definiert. Der Protestant Schleiermacher wollte der Religion auf diese Weise ihre reine Innerlichkeit sichern. Hier findet tatsächlich statt, was Agamben an Otto kritisiert: die vollständige Psychologisierung der Religion. Schleiermacher sagt, man verlasse das Gebiet der Religion, wenn man sich die Gefühle als Handlungen veranlassend und Taten antreibend und damit ihr eigentliches, religiöses Gebiet verlassend denke20. Otto bemerkt dazu: „Unmittelbar und in erster Hinsicht wäre das religiöse Gefühl nach ihm ein Selbst-Gefühl, ein Gefühl einer eigentümlichen Bestimmtheit meiner selbst, nämlich meiner Abhängigkeit. Erst durch einen Schluß, indem ich nämlich hierzu eine Ursache außer mir hinzudenke, würde man nach Schleiermacher auf das Göttliche selber stoßen.21“
Für Schleiermacher offenbart sich die Gottesidee dem Menschen also nicht in unmittelbarer Evidenz an ihr selbst, sondern allein in der Vermittlung des subjektiven Gefühls, von dem aus sie analog zu erschließen sei. Gerade eines solchen Analogieschlusses soll es Otto zufolge nun aber nicht bedürfen. Otto ersetzt deshalb Schleiermachers Begriff des Abhängigkeitsgefühls durch den stärkeren Begriff des „Kreaturgefühls“. Dieses ist nicht als gesteigertes Abhängigkeitsgefühl innerhalb der psychologisch erfaßbaren Sphäre gedacht, sondern bewegt sich in einer qualitativ neuen Dimension von Erfahrung. Das Kreaturgefühl ist für Otto jenes Gefühl, das an die äußerste Grenze des Gefühlsmäßigen als solchen stößt, und auf diese Weise unmittelbar, ohne die Notwendigkeit eines Analogieschlusses, den göttlichen Grund als das „Ganz Andere“ erfährt. Dieses Kreaturgefühl ist es Otto zufolge, das sich in den bedeutendsten religiösen Dokumenten der Menschheit kundgibt, und in dem gewissermaßen das gesamte religiöse Leben seinen Ursprung hat. Es spricht sich etwa in den Worten aus, die Abraham an Gott richtet: „Ich habe mich unterwunden mit dir zu reden, ich, der ich Erde und Asche bin.“ (1. Mos. 18, 27) Hier wird das Ich des übermächtigen transzendenten Du inne, das mysterium tremendum und mysterium fascinans in einem ist. Das Kreaturgefühl ist in der Religionsphänomenologie Rudolf Ottos also der systematische Dreh- und Angelpunkt, an dem innerhalb der Realität des subjektiven Psychischen der sensus numinis als objektives Reflexmoment des göttlichen Grundes selbst sich realisieren soll.
Die im methodischen Diskurs der Religionswissenschaft an Otto geübte Kritik hat dazu geführt, daß man der Phänomenologie des Heiligen einzig noch historische Bedeutung, aber keinerlei aktualisierbaren Wert für eine empirische Spezialwissenschaft mehr zugesteht. Dieser letzte Versuch, einen Gegenstand Religion durch Identifizierung eines gemeinsamen Nenners aller religiösen Erfahrung zu definieren, gilt als gescheitert. Wäre diese Kritik in vollem Umfang zurecht erfolgt, dann wäre auch Zieglers Spätphilosophie, die sich ausdrücklich als Philosophie des Heiligen begreift, heute zurecht vergessen. So verhält es sich aber nicht.
Der große Fehler Ottos bestand darin, das Heilige zum „Phänomen“ zu machen, das heißt wörtlich: zu einem Sich-zeigenden, welches als solches der empirischen Erfahrung jederzeit soll zugänglich sein. Um dies sicherzustellen, und um der Religionsphänomenologie auf diese Weise die Würde einer modernen, einzelwissenschaftlichen Disziplin zu sichern, erfand Otto die Kategorie des sensus numinis. Der Preis dafür war, unter dem Begriff der numinosen Erfahrung entgegen der ursprünglichen Intention das Heilige zu psychologisieren. Die sogenannten objektiven Reflexmomente des Göttlichen unterscheiden sich so, wie Otto sie geltend macht, in nichts von den subjektiven Phänomenen des alltäglichen psychischen Empfindens.
Zurecht ist dies der zentrale Punkt aller an Otto geübten Kritik gewesen. Diese formierte sich keineswegs sofort. Die Wirkung von Ottos Buch war so stark, daß es zehn, zwanzig Jahre dauerte, bis die wesentlichen Kritikpunkte in einzelnen Studien herausgearbeitet waren. Eine erste Summe dieser Kritik bietet das 1942 erschienene Buch „Das Heilige im Germanischen“ von Walter Baetke. Dort wird Ottos Annahme eines „übernatürlichen Gefühls“ treffend als ein „psychologisches Unding“ bezeichnet22. Da das Gefühl seinem ganzen Umfang nach etwas Natürliches ist [23], kann es sich keiner übernatürlichen Inhalte versichern. Die Kategorie des sensus numinis erhebt also einen Anspruch, den sie nicht einlösen kann. Das Übernatürliche, das Absolute, das Heilige läßt sich nicht psychologisieren und somit auch im ganzen nicht naturalisieren, nicht vergeschichtlichen.
Wenn Ziegler dennoch an der Idee einer theologia naturalis festhält und vor allem in seinem Spätwerk ihre Bedeutung und Notwendigkeit deutlich betont, so deshalb, weil er den Befund der schlechthinnigen Andersartigkeit des Heiligen auf äußerst scharfsinnige Weise als allein dialektisch interpretierbaren begreift. In ähnlicher Weise wie Martin Buber, der damit gegen die sogenannt „dialektische“, in ihrer Radikalität aber durchaus undialektische „Theologie der Krise“ sich wandte [24], betont Ziegler die notwendige Bezogenheit gerade des „Ganz Anderen“ auf die Möglichkeit menschlicher Erkenntnis von ihm, von jenem „Daß“ seiner schieren Faktizität, das der Welt, wie der noch unausgeschöpfte Satz Wittgensteins impliziert25, erkennbar mitgegeben ist als ihr mystischer Grund.
Ziegler kann nur deshalb implizit an Otto anknüpfen, weil dessen ursprüngliche Intuition durch sein Scheitern als Spezialwissenschaftler nicht entwertet wird. Sein Fehler bestand nur darin, das Heilige zum wissenschaftlichen Faktum machen zu wollen. Der daraus von Ottos Kritikern gezogene Schluß, Religionswissenschaft müsse auf die Kategorie des Heiligen und damit auf jede Definition ihres Gegenstandsbereichs verzichten, gehört zu den Lächerlichkeiten einer Spezialwissenschaft, die mit einem verengten und verkehrten Begriff von Empirie arbeitet, und die nicht einsehen will, daß hermeneutische Deutungskategorien immer schon ein integraler Bestandteil aller Empirie sind26. Der spezifisch nicht-empirische, übernatürliche Charakter des Religiösen macht für die Religionswissenschaft eine ganz eigene philosophische Konstruktion ihres Gegenstandsbereichs erforderlich, die bezeichnenderweise bis heute nicht geleistet worden ist27.
Die Denkfigur des Ordo Inversus bei Novalis
Daß Ziegler gelingt, woran Otto scheitert, liegt daran, daß er eine Denkfigur zur Anwendung bringt, mit der er in einen seit dem frühen 19. Jahrhundert verschütteten Denkraum vorstößt. Die geistesgeschichtliche Parallele, von der jetzt die Rede sein wird, hätte bereits für Otto geltend gemacht werden können. Wenn dieser nämlich, wie wir sahen, die Wirklichkeit religiöser Phänomene zu beweisen versucht, indem er vom je subjektiven Gefühl zwar ausgeht, dieses Gefühl aber auf einen in ihm anwesenden Grund hin befragt, der unter keinen Gefühlsbegriff sich mehr soll subsumieren lassen – dafür standen ja die Konzeptionen des sensus numinis und des Kreaturgefühls ein -, so vollzieht er damit unbewußt einen Gedankengang nach, der zu den wesentlichsten, aber noch unausgeschöpften des neuzeitlichen Philosophierens gehört.
In den 1790er Jahren haben Novalis und Hölderlin völlig unabhängig voneinander in genialen philosophischen Entwürfen, die ihrem wesentlichen Gehalt nach übereinstimmen, auf Fichtes Theorie des Selbstbewußtseins reagiert, indem sie nachwiesen, daß das Selbstbewußtsein als solches nicht, wie Fichte behauptet hatte, ein letztbegründendes Prinzip der Erkenntnis sein kann. Vor allem bei Novalis wird die theologische Dimension dieser Wendung gegen Fichte ganz deutlich. Das muß vor allem gegenüber Philosophen wie Dieter Henrich betont werden, die, in den Grenzen ihres Fachs und, damit zusammenhängend, des modernen „Subjekts“ befangen, diese theologische Dimension gerne vernachlässigen28. Die Bedeutung der Reflexionen Hardenbergs besteht in dem nachidealistischen Charakter einer Erkenntnistheorie, die sich nicht mehr auf das Subjekt, sondern auf das Andere des Subjekts, auf seinen transzendenten Grund stützt. In diese theologische Dimension philosophischer Erkenntnis stößt nun Rudolf Ottos Phänomenologie des Heiligen ihrer Intention nach wieder vor, scheitert aber daran, daß sie das, was nur als das Andere des Subjekts zu ergreifen wäre, unter der Kategorie des sensus numinis doch wieder subjektiviert. Novalis hatte keinen derartigen Fehler begangen und wird damit zu einem Vorläufer der Erkenntnistheorie des späten Ziegler.
Der Grundgedanke Hardenbergs läßt sich, meine ich, nur dann verstehen, wenn man den theologischen Hintergrund des 18. Jahrhunderts berücksichtigt. Dieter Henrich, der sich in seinen Arbeiten auf die Phase des frühen Idealismus spezialisiert hat, tut so, als hätten Novalis und Hölderlin Fichtes Theorie des Selbstbewußtseins nur durch eine andere, im Grunde gleichwertige ersetzen wollen. Henrich setzt für das Ende des 18. Jahrhunderts eine Selbständigkeit des philosophischen Diskurses voraus, die sich letztlich nicht wird behaupten lassen. In Wahrheit geht es um etwas ganz anderes. Der seit Jahrhunderten geltende Unterschied zwischen natürlicher Vernunft und übernatürlicher Offenbarung, mit Primat der letzteren, war, wie wir sahen, durch die Historisierung und Relativierung der christlichen Glaubensgewißheiten im Vollzug der Aufklärung des 18. Jahrhunderts binnen weniger Jahrzehnte nivelliert worden. Am Ende – mit der logischen Konsequenz des Pantheismus – galten Vernunft und Offenbarung als identisch, d.h. alle Glaubenssätze der christlichen Religion galten jetzt als auf ihren rationalen Kern hin zu entziffernde Mythologeme; Gott ging vollständig in der Natur und in der Geschichte als Gegenstand der wissenschaftlichen und der ästhetischen Betrachtung auf.
Dieser theologische Hintergrund muß dem jungen Friedrich von Hardenberg so präsent gewesen sein, daß er Fichtes Theorie des Selbstbewußtseins sogleich als Äußerung dieses den Primat der Offenbarung negierenden Pantheismus erkennen mußte. Indem er zeigt, daß das Selbstbewußtsein kein Fundament des philosophischen Wissens darstellen kann, weil es seinen Grund immer in einem Anderen seiner selbst hat, unternimmt es Novalis, den Primat der Offenbarung zu retten, ohne die Errungenschaften der Aufklärung zu negieren. Er weiß, daß die philosophischen Entwürfe Kants und Fichtes im Grunde nur der Ausdruck ihrer Zeit sind, also ein reales, nicht rückgängig zu machendes Bewußtsein spiegeln. Damit nimmt Novalis um glatte hundertfünfzig Jahre Adornos Gedanken einer Dialektik der Aufklärung vorweg. Aufklärung, sagt im Grunde schon Novalis, schlägt in schlechte Mythologie um, wenn sie die irrationalen bzw. überrationalen Momente des menschlichen Geistes in sich zum Verschwinden bringt.
Genau das ist der Vorwurf, den er gegen Fichte erhebt, indem er das Selbstbewußtsein als eine Gestalt der Verkehrung des realen Wissens deutet. Diese Verkehrung kann zwar nicht rückgängig gemacht, aber sie kann überwunden und in ein neues religiöses Bewußtsein integriert werden. Das geschieht, indem die vollzogene Verkehrung sich als Schein erkennt. Das Selbstbewußtsein muß sich als Schein eines absoluten Wissens setzen, weil es als reflexives nur sich selbst kennt und auf diese Weise alle Inhalte, die es ergreift, in das Gefühl seiner selbst auflöst. Diese Gewißheit des Gefühls kann aber durchstoßen werden, indem das Gefühl erkennt, daß es sich nicht selber fühlen kann, also mit jedem Akt des scheinbaren Wissens von sich in Wahrheit nur an eine Grenze des Wissens stößt29.
Die Ausführungen, in denen Novalis dieses Thema immer neu umkreist, lesen sich teilweise wie ein mehr als hundert Jahre im voraus verfaßter negativer Kommentar zu Rudolf Ottos Religionsphänomenologie. Denn Otto löst ja gerade das Irrationale auf in das unmittelbare Wissen des sensus numinis, bestätigt also nur das Selbstbewußtsein in seiner Verkehrung. Er läßt das Wissen ja nur deshalb an eine Grenze stoßen, um hinterrücks alle Grenzen aufzulösen und wieder den Schein eines unmittelbaren Wissens vom Absoluten zu errichten. Novalis hingegen konzipiert eine Technik des Nichtwissens, die zugleich eine Technik des Erwachens aus dem Schlaf des Selbstbewußtseins ist. Nur als nicht gewußte, als Signum einer nicht erreichbaren Erkenntnis, ist für ihn die Offenbarung unter den Voraussetzungen des Selbstbewußtseins präsent. Dennoch ihr, als Offenbarung, den Primat zuzuweisen, ist die Aufgabe und zugleich Aufhebung der Philosophie. Es herrscht zwischen Offenbarung und Vernunft also ein paradoxes Verhältnis, das Novalis unter den Begriff des ordo inversus, der umgekehrten Ordnung, bzw. Ordnung der Umkehrung, faßt30.
Man könnte den Sinn dieser Denkfigur folgendermaßen zusammenfassen: nur als verschwundene ist die Offenbarung mit der Vernunft des Selbstbewußtseins identisch. Folglich muß das Selbstbewußtsein sich selber zum Verschwinden bringen, um den Schein seines absoluten Wissens zu zerstören und gerade in seinem Nichtwissen sich zu befestigen. Das dürfte es sein, was Novalis mit der berühmt gewordenen Wendung den ächt philosophischen Sinn der Selbsttödtung nennt. Damit ist im voraus Rudolf Ottos Theorie des Heiligen negiert. Denn es kann ja auf der Ebene des reinen Gefühls gerade kein unmittelbares Wissen des Heiligen geben, sondern nur ein Wissen unseres Nichtwissens. Das Übernatürliche ist der natürlichen Vernunft niemals unmittelbar gegenwärtig, sondern ihr eingeschrieben als nur in ihrer Negativität zu fassende Spur. Damit kann es aber auch unter den Voraussetzungen des verkehrten, des abgefallenen Bewußtseins als in seiner Negativität präsent gedacht werden. Eine Verwandlung des ganzen Daseins ist möglich, die der späte Ziegler unter den Begriff der Metanoia, der „Umkehrung“ oder des „Umschlags“ faßt.
Leopold Zieglers negative Geschichtsphilosophie
Ohne sich im besonderen auf Novalis zu beziehen, und ohne den Begriff des ordo inversus zu gebrauchen, faßt Ziegler die soeben dargestellten Gedanken auf den letzten Seiten seines „Lehrgesprächs“ mit Bezug auf Schelling in die Forderung zusammen, „daß wir eine Epoche augenscheinlichen Abfalls dennoch als Stufe und Gestalt einer einzigen fortlaufenden Gott-Welt-Menschwerdung, dennoch als theogonische Stufe und Gestalt sohin!, werten und würdigen sollen.“31 Genau darin gründet Zieglers Überzeugung, die Idee des Allgemeinen Menschen lasse sich nicht mehr durch einen bloßen Bezug auf der Vergangenheit angehörende Offenbarungswahrheiten fruchtbar machen, nicht mehr, wie es im „Lehrgespräch“ auch heißt, „auf dem früher von mir beschrittenen Wege integral-christlicher Überlieferung“32.Denn wenn der Primat der Offenbarung gerade in seinem Verschwinden sich erhält und erneuert, so muß auch das wissenschaftliche Zeitalter in seiner ganzen Erfahrungsarmut, in seiner ganzen Überlieferungsfernheit als eine Gestalt eben dieser Offenbarung entziffert werden können, die als negative den Sphären der Natur und der Geschichte als kabbalistisch zu entschlüsselnde Spur eingeschrieben ist. Im folgenden soll die negative Geschichtsphilosophie, die dieser Anschauung des späten Ziegler zugrunde liegt, anhand zweier Briefäußerungen geklärt werden. Sie betreffen das Verhältnis von Geschichte und Absolutem, mit dem Ziegler sich bereits seit längerem beschäftigt hatte.
Ein Brief Zieglers an Friedrich Gundolf vom 30. November 1929 zeigt, wie theoretisch versiert Ziegler schon damals dieses Verhältnis zu reflektieren vermochte. Gundolf hatte am 24. November an Ziegler geschrieben: „Bei der Lesung Ihrer Bücher gilt es, für Menschen meiner Anlage, nicht nur das freudige Gewahrwerden Ihrer ungeheuren Wissensfülle und Ihrer Gewalt darüber, sondern auch – Freude und Kampf zugleich – die Bewährung der Geschichts-bilder vor der Geschichts-weisheit, vor der philosophischen Perspektive worin sie Ihnen erscheinen. Der uralte Kampf zwischen Philosophie und Historie (verwandt mit dem zwischen Philosophie und Dichtung) oder zwischen Sinnsprache und Bildsuche wird durch Sie wieder wach und hell, durch einen Philosophen, der die Geschichte genauer weiß als Historiker Philosophie zu kennen pflegen, (wenn sie überhaupt ihrer mächtig oder ihr hörig sein dürfen ohne Gefahr des ‚historischen Sinns‘.) Was der Historie droht, wenn ein Philosoph sich ihrer als Zeichensprache bedient für die Aufhebungsakte der Historie, hat Hegel, selbst noch Nietzsche, gezeigt. – In Ihrem ‚Gestaltwandel der Götter‘ bekundet sich eine Geschichtskenntnis, eine Geschichtszärtlichkeit fast, wie sie sogar bei Fachhistorikern selten, bei Philosophen ohne Beispiel ist… und dennoch wollen auch Sie damit nicht die Gegenwart der Historienbestände, sondern deren Aufhebung in den transcendenten Grund.“33.
Diese Äußerung Gundolfs ist höchst ambivalent. Er würdigt, ja bewundert Zieglers Begabung und Leistung, bezieht aber sogleich dem Standpunkt des Geschichtsphilosophen gegenüber die Position des Historikers, dem es nicht darauf ankomme, einen in der Geschichte wirksamen Sinn ausfindig zu machen, sondern dem an den Bildern gelegen sei, welche, von der Vergangenheit des historischen Geschehens abgelöst, als Grundmuster der Geschichte selbst erkannt und in der Gegenwart wirksam werden könnten. Es ist äußerst merkwürdig, daß der Selbstwiderspruch, der darin liegt, Gundolf nicht zu Bewußtsein gekommen ist. Zum einen brüstet er sich dem vermeintlich sachfremden, spekulativen Zugriff des Philosophen gegenüber mit der korrekten Empirie des Einzelwissenschaftlers. Zum anderen aber ist er selbst es, der die Geschichte zum Gegenstand einer höchst spekulativen Konstruktion macht, wenn er für sich in Anspruch nimmt, jene Bilder aus ihr herauslösen zu können, in denen die Geschichte ihr Muster preisgibt. Die für diese Verwirrung verantwortliche Kategorie ist die des „historischen Sinns“. Dieses Vermögen soll einander Ausschließendes leisten: zum einen auf einen Sinn der Geschichte verzichten, um rein dem historischen Material sich anzuschmiegen; zum anderen der Geschichte doch wieder einen Sinn ablauschen, der im mythischen Bildcharakter alles Geschehens bestehen soll.
Diese Argumentation ist so raffiniert und bodenlos, daß es Ziegler schwer gefallen sein dürfte, freundlich darauf zu antworten. Es ist ihm aber gelungen, indem er zunächst mit leiser Ironie die ganze Fragestellung wegwischt. Ziegler schreibt: „Da ich in meinem Schaffen eigentlich naiv verfahre und mir so gut wie nie die ‚kritische‘ Frage stelle, ob dieses Verfahren überhaupt zu rechtfertigen wäre – wenn nicht: nun dann bin ich eben selber nicht zu rechtfertigen, – so ist mir auch der Gegensatz von Philosophie und Historie erst vor ganz kurzem in seiner Härte und Schroffheit zu Bewußtsein gekommen.“34.
Was folgt, ist das höchst bemerkenswerte Programm einer Geschichtsphilosophie, die zurecht mit dem Anspruch auftreten kann, tiefer den Gegensatz zwischen Philosophie und Historie zu reflektieren, als Gundolf es im Zeichen des sogenannten „historischen Sinns“ vermag. Ziegler schreibt: „In einem bestimmten Stadium meiner Arbeit mußte es mir auffallen, daß die Geschichte als solche immer wieder bewegt und fortgetrieben werde durch ihrer Intention nach über- und außergeschichtliche Momente, die nur als Einbruch in sie deutbar werden, oder wenn Sie wollen, als ‚Aufhebung‘… Seither beginne ich zu ahnen, warum ich immer mit innerer Zwangsläufigkeit in der Geschichte nach den Einkörperungen geschichtsjenseitiger Mächte suchen und suchen mußte. Indem ich so verfuhr, zum Ärgernis des berufenen Geschichtsschreibers (und in den Konsequenzen auch des Wissenschaftlers überhaupt), gehorchte ich einer Duplizität der Tendenzen, in die mir auch sonst alles Lebendige auseinanderbricht, um freilich von ihr aus auch zur Einheit wenn nicht des Seins, so doch des Geschehens zu verwachsen.“
Radikaler läßt sich nicht formulieren, worin die tiefe Unvereinbarkeit der beiden Positionen Ziegler zufolge besteht: keineswegs in einer bloßen Verschiedenheit der Gegenstände, als hätte nur der Historiker es mit der Geschichte als solcher zu tun, der Philosoph hingegen als armseliger Spekulant mit der Konstruktion eines geschichtsfremden Sinns. Ziegler kehrt den Spieß um. Nur der Philosoph, sagt er, vermag die Geschichte als Geschichte zu denken, weil die Geschichte selbst und als solche nichts anderes ist als das Wirken übergeschichtlicher Ideen. Und wenn der Historiker glaubt, der Philosoph halte sich mit geschichtsfremden Abstraktionen auf, so urteilt Ziegler als Philosoph umgekehrt: die Geschichte selbst ist eine Abstraktion. Es gibt keine Geschichte. Was wir so nennen, das historische Kontinuum, ist nur die exoterische Außenseite eines stehenden Verhältnisses zum Absoluten, das als mystischer nunc stans nicht zeitlos, aber überzeitlich ist und Zeit zugleich konstituiert und in sich aufhebt. Diese entscheidende Gedankenfigur läßt sich, meine ich, auf folgende dialektische Formel bringen: Von der Geschichte aus, der reinen Zeit, führt kein Weg zum Absoluten, aber im Absoluten öffnen und erfüllen sich Geschichte und Zeit.
Die Einsicht, daß von der Geschichte kein Weg zum Absoluten führt, liegt, wie ich glaube, auch einer Äußerung aus dem Jahr 1953 zugrunde. Der französische Autor André Préau hatte in einem Aufsatz am Leitfaden der Frage nach dem Zeitalter der Technik Gemeinsamkeiten zwischen Ziegler und Heidegger festgestellt. Ziegler betont daraufhin in einem Brief vom Juni 1953 „die unterschiedlichen Ansatzpunkte … , wofern in der Mitte Heideggerschen Denkens die ‚Bedenklichkeit oder auch Unvordenklichkeit des Seienden‘ steht: bei mir jedoch das ‚Heilige‘.“35.
Hinter der Geste, „unterschiedliche Ansatzpunkte“ zu betonen, verbirgt sich, wenn auch unaufdringlich formuliert, Kritik. Denn auch Heideggers Anspruch ist es ja durchaus, das Sein als heiliges zu bedenken. Die entscheidende Gedankenfigur Heideggers ist die „ontologische Differenz“. Ihr zufolge erschöpft das Seiende, als die Gesamtheit alles gegenständlich Vorhandenen verstanden, nie die Fülle des Seins als solchen. Das gegenwärtige Zeitalter ist für Heidegger das Zeitalter der vollständigen Verborgenheit dieses, des heilen Seins. Dessen erneute Zukehr kann vom Menschen nicht erzwungen, sie kann einzig mit Gelassenheit erwartet werden. Die erneute Zukehr des Seins ist für Heidegger identisch mit der Erscheinung eines neuen Gottes, also einer neuen, nicht mehr dem Bereich des Christlichen angehörigen Offenbarung. Sie ist das sogenannte „Ereignis“, das in der Mitte des Denkens des späten Heidegger steht.
Nun wird dieses Ereignis bei Heidegger in eine unbestimmte Ferne gerückt, und zwar im Rahmen einer geschichtsphilosophischen Konstruktion, die sich letztlich auf Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“ zurückführen läßt. Das hat seinen Grund in einem Gedanken Spenglers, den Heidegger übernimmt. Spengler zufolge ist bekanntlich die Weltgeschichte ein System von Kulturkreisen, deren Aufstieg und Verfall einer strengen Gesetzmäßigkeit unterliegt, den Jahreszeiten oder den Lebensphasen des Menschen vergleichbar. An ihrem Ende aber, nach etwa tausend Jahren, versinkt eine jede Kultur in ein Stadium, das Spengler die Fellachenzeit nennt. Sie ist von unbestimmter Dauer; es gibt für Spengler ganze Völkerschaften, die nach dem Verfall ihrer Hochkultur niemals mehr aus ihr sich haben befreien können, niemals mehr von einem kulturschaffenden Impetus ergriffen worden sind.
Diese Konstruktion einer Fellachenzeit wird nun für Heidegger unter dem Einfluß der geschichtstheologischen Motive Hölderlins zur sogenannten „Weltnacht“ der Technik, dem Zeitalter der schlechthinnigen Abwesenheit des Seins und des Heiligen. Diese Abwesenheit ist die Folge davon, daß der Mensch die „ontologische Differenz“ nivellierte, also davon ausging, daß das Sein nichts anderes sei als die berechenbare und mit den Mitteln der Technik beherrschbare Summe alles gegenständlich Vorhandenen. Die Technik kehrt nun aber als „Gestell“ sich gegen den Menschen selbst.
Der Begriff des Gestells bezeichnet die paradoxe Pointe des ganzen heideggerschen Philosophierens. Indem der Mensch das Seiende an die Stelle des Seins setzte, das Sein also vollständig vergegenständlichte, kehrt das derart nivellierte Sein nun als das Gestell der Technik sich gegen den Menschen und entzieht sich seinem Zugriff. Als Gestell ist die Technik nichts anderes als der Raum dieses Entzugs. Dieser Raum ist aber paradoxerweise beides: er ist die Abwesenheit des Seins, und doch zugleich das Sein selber in dem Stadium seines Sich-selbst-entziehens. Darauf gründet sich Heideggers Hoffnung auf eine neue Zukehr des Seins, das heißt: auf das Ereignis des Heiligen. Zwar ist die Technik die nicht rückgängig zu machende Weise unseres Daseins in der Weltnacht. Da diese Technik aber gar nicht das ist, als was wir sie erfunden haben; da die Technik gar nicht unsere Herrschaft über das Sein ist, sondern gerade unsere Machtlosigkeit ihm als Sich-entziehenden gegenüber, besteht die Hoffnung, daß aus diesem uns entzogenen Raum der Technik neu das Heilige sich offenbare, der neue Gott komme. Diese Hoffnung ist Heideggers einzige.
Dazu folgendes: Es gibt bei Nietzsche eine sehr feine Definition des Nihilismus, die auf dessen psychologische Struktur hinweist. Dieser Definition zufolge ist der Nihilist jemand, der über die Welt, wie sie ist, urteilt, sie solle nicht sein, und der über die Welt, wie sie sein sollte, urteilt, sie existiere nicht. Ein solcher Nihilist ist Heidegger. Die Art und Weise, wie dieser Nihilismus in seinem Werk zur Geltung kommt, entstammt der Geschichtsphilosophie Spenglers und nicht zuletzt den Denkmustern der Weimarer Rechten, die man mit dem sehr problematischen Begriff der „Konservativen Revolution“ zu bezeichnen pflegt. Die unausgesprochene Annahme noch des spätesten Heidegger ist die, daß das Dasein des Menschen im Grunde nur als geschichtliches, als volkhaftes, als nationales einen Sinn habe, und daß der künftig sich offenbarende Gott, gegen die gottlose Zivilisation des Westens sich richtend, nur ein deutscher Gott sein könne. Heidegger ignoriert, daß Vernunft niemals eine nationale Angelegenheit sein kann, sondern qua Vernunft eine einzige, universale ist. Er ignoriert, daß der Einzelne jederzeit und an jedem Ort, unabhängig von den spezifischen Bedingungen der geschichtlichen Epoche und zumal von Faktoren wie Volk oder Rasse in ein Verhältnis zum Absoluten treten kann. Man könnte pointiert gegen Heidegger einwenden: Offenbarung ist gerade dadurch Offenbarung, daß sie nichts von dem achtet, was Heidegger zu ihren Voraussetzungen erklärt. Der Nihilismus Heideggers, um das Wort Nietzsches anzuwenden, besteht darin, daß unter den Bedingungen seiner Philosophie der erhoffte Gott, sollte er tatsächlich sich offenbaren, ihm gar nicht zu Gesicht kommen könnte. Denn der Philosoph, der davon überzeugt ist, daß wir in dem Zeitalter der schlechthinnigen Gottlosigkeit leben, müßte die Erscheinung des Gottes ja für einen Betrug halten und würde ausrufen: nein, das ist er nicht, denn die Zeit für ihn ist noch gar nicht da; die geschichtlichen, die volkhaften, die nationalen Bedingungen für sein Erscheinen fehlen ja noch.
Es scheint, daß Ziegler diese Aporien des heideggerschen Seinsdenkens scharf durchschaut hat, ohne es ausdrücklich zu sagen. Indem er gegen das „Sein“ das „Heilige“ setzt, bestreitet er Heideggers Grundgedanken einer geschichtlichen Vermitteltheit des Absoluten. Denn daß das Sein nur in der Geschichte und nur als Geschichte offenbar wird, ist das Grundmotiv, dem Heidegger bis in die Spätphase seiner Philosophie hinein treu bleibt. Ziegler aber bestreitet die geschichtliche Bedingtheit des Absoluten und besteht auf dessen keiner geschichtlichen Bedingung unterworfenen, überzeitlichen und daher jederzeit zu aktualisierenden Wahrheit.
Erst von hier aus wäre das „Lehrgespräch“ zu verstehen. Der mit den früheren Schriften Zieglers Vertraute muß sich ja wundern, am Anfang des Buches aus Zieglers Mund zu vernehmen, der Allgemeine Mensch solle jetzt nicht mehr „von oben“ aus der christlich-integralen Überlieferung, sondern „von unten“ mit den Mitteln der Wissenschaft, der Biologie, der Evolutionstheorie in Sicht gebracht werden36. Ziegler tut das aber im folgenden nur, um auf die Verwissenschaftlichung des Daseins in derselben Weise reagieren zu können, wie Novalis auf Fichtes Theorie des Selbstbewußtseins reagiert hatte. Er läßt den Raum der Wissenschaften zunächst positiv entstehen, um dann, im Umschlag der Perspektive, ihn als negativen erkennen zu können, so daß zur Hälfte des Buches in einem dialektischen Umschlag der Perspektive erklärt werden kann, die Welt sei kein Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis37. Wenn es aber so ist, daß das Absolute ein Absolutes ist und trotzdem die Möglichkeit des Abfalls von ihm besteht, dann muß die Negativität dieses Abfalls von Anfang an in mystischer Paradoxie der Identität des Absoluten selbst eingeschrieben sein. Folglich sind Natur und Geschichte im ganzen von diesem Bruch durchzogen, sind nichts anderes als dieser Bruch. Aufgabe des Menschen ist es nach Ziegler, diesen Bruch in sich zur Aufhebung zu bringen. Die zweite Hälfte des „Lehrgesprächs“ ist die Theorie dieser Verwandlung.
Fußnoten
1 Vgl. Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen (1917), im folgenden zitiert nach der 12. Aufl., Stuttgart/Gotha 1924; ergänzende Studien erschienen wenige Jahre später unter dem Titel „Aufsätze das Numinose betreffend“, Stuttgart/Gotha 1923.
2 Ziegler selbst hat das in einem Brief vom 30. Juni 1953 an den französischen Autor André Préau sehr pointiert ausgesprochen. Préau hatte Gemeinsamkeiten zwischen Ziegler und Heidegger festgestellt, woraufhin Ziegler „die unterschiedlichen Ansatzpunkte“ betont, „wofern in der Mitte Heideggerschen Denkens die ‚Bedenklichkeit oder auch Unvordenklichkeit des Seienden‘ steht: bei mir jedoch das ‚Heilige‘“ (Leopold Ziegler, Briefe und Dokumente, Gesammelte Werke in Einzelbänden Bd.5, hg. im Auftrag der Leopold-Ziegler-Stiftung v. Paulus Wall, Würzburg 2005, S.343).
3 Leopold Ziegler, Menschwerdung (2 Bde.), Olten 1948, Bd. I, S.173
4 Leopold Ziegler, Leben und Werk in Dokumenten, bearb. v. Gerhard Stamm, Friedbert Holz und Helmut Schröer, Katalog zur Ausstellung vom 24.11.1978 – 10.1.1979 in der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe; S.144
5 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, unter Mitw. v. Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. II/1, Frankfurt am Main 1977, S.75
6 Leopold Ziegler, Briefe und Dokumente (wie Anm.25), S.117
7 Leopold Ziegler, Gesammelte Aufsätze I. 1901-1916, hg. v. Renate Vonessen (Gesammelte Werke in Einzelbänden, hg. i. Auftr. d. Leopold-Ziegler-Stiftung v. Paulus Wall, Bd.6), Würzburg 2007
8 Ebd., S.32
9 Hermann Broch, Kommentierte Werkausgabe, Bd. 9/1, S.111
10 Leopold Ziegler, Lehrgespräch vom Allgemeinen Menschen in sieben Abenden, Hamburg 1956, S.10
11 Ebd., S.11
12 Mit diesem Themenkomplex beschäftigte sich in herausragender Weise Jacob Taubes. Zu den Konsequenzen des Historismus für die Philosophia perennis und das religiöse Bewußtsein im ganzen vgl. v.a. Taubes, Nachman Krochmal und der moderne Historismus, in: Ders., Vom Kult zur Kultur. Bausteine zu einer Kritik der historischen Vernunft. Gesammelte Aufsätze zur Religions- und Geistesgeschichte, München 1996, S.68ff.
13 Leopold Ziegler, Gesammelte Aufsätze I (wie Anm. 30), S.177ff.
14 Gershom Scholem, Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft, 4. Aufl., Frankfurt am Main 1997, S.221
15 Walter Benjamin, GS II/1 (wie Anm.28), S.213ff.
16 Giorgio Agamben: Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main 2002, S.88
17 Rudolf Otto, Das Heilige (wie Anm.24), S.2
18 Rudolf Otto, ebd., S.8
19 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen, erw. Fassung, Frankfurt am Main 1994, S.142
20 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Leipzig, o.J., Sonderdruck aus: Schleiermachers Werke. Auswahl in vier Bänden, hg. v. Otto Braun, 2. Aufl. 1911; S.44f.
21 Rudolf Otto, Das Heilige (wie Anm. 24), S.10
22 Walter Baetke, Das Heilige im Germanischen, Tübingen 1942, S.20
23 Vgl. Friedrich Karl Feigel, Das Heilige (Auszüge), in: Carsten Colpe (Hrsg.), Die Diskussion um das „Heilige“, Darmstadt 1977, S.380-405; S.381f.
24 Vgl. H. Kohn, Martin Buber, 3. Aufl., Köln 1961, S.215
25 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 6.44: „Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist.“
26 Zu den wenigen Religionswissenschaftlern, die das immer wieder betonen, damit aber bislang bei den Kollegen ihres Fachs auf wenig Gehör gestoßen sind, gehört Carsten Colpe. Von seinen Schriften sind in diesem Zusammenhang zu nennen: Carsten Colpe, Theologie, Ideologie, Religionswissenschaft. Demonstrationen ihrer Unterscheidung, München 1980 (darin zu Otto v.a. S.143ff.); Ders.: Über das Heilige. Versuch, seiner Verkennung kritisch vorzubeugen, Frankfurt am Main 1990; Ders.: Zur Neubegründung einer Phänomenologie der Religionen und der Religion, in: Hartmut Zinser (Hrsg.), Religionswissenschaft. Eine Einführung, S.131-154. Der Aspekt des Hermeneutischen wird auch von Jacques Waardenburg stark betont, der eine der lesenswertesten Einführungen in die Religionswissenschaft verfaßt hat: Jacques Waardenburg, Religionen und Religion. Systematische Einführung in die Religionswissenschaft, Berlin / New York 1986.
27 Zu den letztlich zu Kant zurückführenden philosophischen Voraussetzungen der Religionsphänomenologie Ottos vgl. v.a. Ansgar Paus, Religiöser Erkenntnisgrund. Herkunft und Wesen der Aprioritheorie Rudolf Ottos, Leiden 1966.
28 Das muß vor allem deshalb betont werden, weil die erkenntnistheoretische Dimension als solche der Wendung gegen Fichte von Henrich formal einwandfrei herausgearbeitet worden ist. Das gilt zumal für seine große Arbeit über Hölderlin: Dieter Henrich, Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794-1795), 2. Aufl., Stuttgart 2004; zu Hölderlins Fichte-Kritik dort v.a. S.40ff.. Zur Programmatik von Henrichs Idealismus-Forschung im ganzen vgl. Ders., Die Erschließung eines Denkraums. Bericht über ein Forschungsprogramm zur Entstehung der klassischen deutschen Philosophie nach Kant in Jena 1789-1795, in: Ders., Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789-1795), Stuttgart 1991, S.215-263.
29 Vgl. Novalis, Philosophische Studien 1795/96 (Fichte-Studien), in: Ders., Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hg. v. Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel, Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk, Darmstadt 1999 (Lizenzausgabe), S.17ff. u.ö.
30 Vgl. Novalis, ebd., S.31-39. Zum Begriff des Ordo Inversus vgl. Manfred Frank / Gerhard Kurz: Ordo Inversus. Zu einer Reflexionsfigur bei Novalis, Hölderlin, Kleist und Kafka, in: Herbert Anton / Bernhard Gajek / Peter Pfaff (Hrsg.), Geist und Zeichen. Festschrift für Arthur Henkel zu seinem 60. Geburtstag dargebracht von Freunden und Schülern, Heidelberg 1977, S.75-97. Auch diese Darstellung ist sparsam mit Hinweisen auf die theologische Dimension dieser Denkfigur bei Novalis. Deutlicher werden diese wichtigen Bezüge bei Stefan Summerer, Wirkliche Sittlichkeit und ästhetische Illusion. Die Fichterezeption in den Fragmenten und Aufzeichnungen Friedrich Schlegels und Hardenbergs (Diss. Heidelberg 1970), Bonn 1974. Hans-Joachim Mähl betont im Unterschied zu den neueren Autoren vor allem die positive Anknüpfung Hardenbergs an Fichte; vgl. Hans-Joachim Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen (1. Aufl. 1964), 2. Aufl., Tübingen 1994. Der positive Bezug kann von Mähl vor allem deshalb so stark betont werden, weil seine Studie weniger erkenntnistheoretisch als vielmehr geschichtsphilosophisch ausgerichtet ist. Mähl sieht die positive Bedeutung Fichtes für Novalis vor allem in der emphatischen Würdigung geschichtlichen Handelns, in einem „Appell an die Tätigkeit“, der seine Rechtfertigung gerade aus der Einsicht in die Unerreichbarkeit des Ideals erhält; vgl. Mähl, ebd., S.284f.
31 Leopold Ziegler, Lehrgespräch (wie Anm. 33), S.240
32 Ebd., S.42
33 Leopold Ziegler, Briefe und Dokumente (wie Anm. 25), S.291
34 Ebd., S.291f.
35 Ebd., S.343
36 Vgl. Ziegler, Lehrgespräch (wie Anm. 33), S.41f.
37 Ebd., S.126