Max Lorenzen: Demokratieanalyse und Utopie. Leopold Zieglers Kritik der modernen Gesellschaft
Leopold Zieglers 1931 im Otto Reichl Verlag Darmstadt erschienenen “Fünfundzwanzig Sätze vom Deutschen Staat” stehen schon beinahe am Ende einer Epoche, die auf die tiefgreifenden geistigen, wissenschaftlich-technischen, sowie insgesamt gesellschaftlichen Umstrukturierungen mit Angst, aber auch der Hoffnung reagierte, das aus den Fugen geratene soziale Ganze nach rationalen Vorgaben neu einrichten zu können. Zwei große, theoretisch und politisch relevante Strömungen, die sozialistisch-revolutionäre und die konservative, beanspruchten jeweils, die richtigen Modelle für eine nicht nur ökonomisch bessere Organisation des gesamten Daseins liefern zu können. Ohne Zweifel stellt Zieglers Demokratieanalyse, seine Kritik der Moderne, einen bedeutenden Beitrag innerhalb der erwähnten Strömungen dar, deren konservativ-reformatorischem Flügel sie zuzurechnen ist. In der Folge sollen die Grundbegriffe des Zieglerschen Ansatzes, wie er sich etwa auch in der “Magna Charta einer Schule” von 1928, aber auch schon in “Volk, Staat und Persönlichkeit” von 1917 darbietet, vorgestellt werden. Immer wieder wird dabei ins Auge springen, dass die in der Frühphase des letzten Jahrhunderts unternommenen Analysen der Moderne uns die heute längst selbstverständlich gewordenen Formen der politischen und sozialen Welt wieder in einem neuen und gleichsam verfremdeten Licht erscheinen lassen.
Ziegler nennt “Staat den Inbegriff aller Einrichtungen und Maßnahmen, aller Behörden und Gewalten, die eine menschliche Vielheit zum bewusst einheitlichen Handeln nach außen und innen befähigen” (Fünfundzwanzig Sätze, S. 9). Bereits in diesem ersten Satz seiner Schrift ist impliziert, dass der “menschlichen Vielheit” oder “Lebensmannigfaltigkeit” (ebda.), für sich keine “Bewusstheit und Zielstrebigkeit, Folgetreue und Stetigkeit”(ebda.) zukommt: “weshalb der Staat grundsätzlich als Werkzeug der Willensbildung aufzufassen ist” (ebda.).
Außerhalb des Staates könne ein Stamm oder Volk “nur “unwillkürlich”, nur “triebhaft”, und insofern auch nur “willenlos” oder “unwillentlich”“ handeln (ebda.). Ziegler gibt nun in einem äußerst gedrängten geschichtlichen Abriss einen Überblick, wie sich diese Willensbildung – entweder von unten nach oben oder von oben nach unten – vollzogen hat, um zu formen, was er die “Herrschaftsmitte” nennt. In einfachen, übersichtlichen, also kleinen Gemeinschaften könne eine solche Übertragung von Macht in freier Vollversammlung stattfinden. Diese unmittelbare Legitimität fehlt, wenn es keine “Urwahl” (S. 12) gegeben hat und geben konnte, weil, etwa in späterer Zeit, die Staatsgebilde zu groß sind. Die später von Ziegler, zum Beispiel in “Überlieferung” (1. Aufl. 1935) vertretene Ansicht, eine “Herrschaftsmitte” könne auch und vor allem durch Bemächtigung, Okkupation von Grund und Boden, entstehen, spielt hier keine Rolle.
Kann mithin die Herrschaftsmitte keinen unmittelbaren Anspruch erheben, den Gruppenwillen zu verkörpern, so bedarf sie nachträglich der Übertragung ihres Willens auf die Gruppe, die – eine äußerst interessante Anfügung Zieglers – “jedem ihr “fremden” Willen instinktiv einen inneren Widerstand auch dann entgegengesetzt, wenn sie selbst von Hause aus willenlos ist” (S. 11). Davon abgesehen jedoch ergäbe sich aus solchen Voraussetzungen: einer “Urwahl”, die sich in mittelbaren Akten fortsetzte, die Idee eines “echten Wahlreichs” (S. 14), also eines “Staatsgefüge[s], wo […] jede Behörde und jede Gewalt aus einer Wahl hervorgeht” (ebda.). Das später von Ziegler bezeichnete Ideal eines Körperschaftsstaats leitet sich aus dieser Idee her, deren ergänzendes Gegenbild der absolute Staat ist, in dem “tatsächlich alle Gewalt von der Herrschaftsmitte” ausgeht (S. 22). Seinen Anfängen steht im Mittelalter die freie Stadt gegenüber, sodass es die “höchste Aufgabe des Reichs [war], das hierarchische und das demokratische System zu versöhnen und beide einer ganzheitlich umspannenden Herrschaftsmitte “organisch” einzugliedern” (S. 21). Dieser Gedanke, hierarchische und demokratische Elemente in einen nicht mehr politisch prekären, sondern vom Gesellschaftssystem selber abgesicherten Ausgleich zu bringen, scheint mir das Zentrum der Zieglerschen Staatsutopie auszumachen (vgl. hierzu besonders S. 49).
Die Geburt der modernen Demokratie jedoch fußt auf anderen Voraussetzungen, wie das Beispiel Amerika zeigt. Der Einzelne ist nicht mehr Teil des Staates, sofern er gleichzeitig zum Beispiel ständischen Korporationen angehört, vielmehr löst er sich aus diesen, um dem Staat als “Mensch schlechtweg” (S. 24), als “vernunftbeseeltes Einzelwesen, als sich selbst verantwortliches Individuum, als selbstherrliche Person” (ebda.) entgegenzutreten. Ziegler macht nun sehr deutlich, inwiefern diese uns selbstverständlich anmutende Grundvoraussetzung des modernen Staates, nämlich dass ihm als regulative Idee der freie und autonome Bürger gegenübersteht, dessen Existenz sozusagen fraglos die “Menschenrechte” einbeschrieben sind, gleichermaßen impliziert, dass aus in vielfältige Gemeinschaften eingegliederte Wesen Einzelne und Vereinzelte werden, deren Gleichheit ein weitgehend atomisiertes Dasein voraussetzt. Von nun ab gilt das Axiom, “dass alle gleichmäßig frei und unabhängig sind auf Grund ihrer Eigenschaft als Menschen” (S. 24), “dass aber jetzt das Volk in diesem lebendigen Begriffe als Sippe und Stamm, als Berufsverband oder Berufsstand restlos verschwunden ist […]. So ähnelt das amerikanische Volk, arithmetische Summe von Individuen im gleichen Raume, fast in keinem Bezug den Volkheiten Europas mehr.” (S. 25)
Die freien und gleichen Individuen, zusammengeschlossen in einem Staatsverband, machen in ihrer Gesamtheit, auch jedoch, wenn sie als Teilkollektive auftreten (wo immer: bei Festen, Sportveranstaltungen, kulturellen Ereignissen), das aus, was Ortega y Gasset die “Masse” nennt: “Es gibt eine Tatsache, die das öffentliche Leben Europas in der gegenwärtigen Stunde – sei es zum Guten, sei es zum Bösen – entscheidend bestimmt: das Heraufkommen der Massen zur vollen sozialen Macht” (Der Aufstand der Massen, Stuttgart 1957, S. 70; die spanische Erstausgabe erschien 1930, also ein Jahr vor den “Sätzen vom Deutschen Staat”).
Was Ziegler vom amerikanischen Volk sagt, es sei “ohne Vergangenheit, ohne Überlieferung, ohne Erbmasse, ohne Ahnen, ohne die senkrechte Verklammerung seiner Glieder in der Tiefe der Zeit nach Herkunft und Abstammung” (S. 26), das trifft insgesamt für die moderne Masse zu, deren Situation Ortega y Gasset so beschreibt: “Der Geist der Tradition ist bis auf den letzten Rest entflohen. Vorbilder, Normen, feste Formen nützen uns nichts. Wir haben unsere Probleme – seien sie künstlerisch, wissenschaftlich oder politisch – ohne die tätige Mitarbeit der Vergangenheit in voller Gegenwart zu lösen. Der Europäer steht allein, ohne lebende Tote neben sich; wie Peter Schlehmihl hat er seinen Schatten verloren. So geschieht es, wenn der hohe Mittag kommt.” (Der Aufstand der Massen, S. 96)
Die Freisetzung des Einzelnen gegenüber dem Staat sei ein “Hauptmerkmal der modernen Demokratie” (S. 26), führt Ziegler aus. Auf die “Würde” dieses Einzelnen fällt jedoch ein Schatten. Wer ohne den Halt, den die Eingliederung in einen größeren kollektiven Verband gibt, der Staatsmaschinerie gegenübertritt, wird schnell seine Ohnmacht empfinden. Um ihr zu entgehen, mag er sich nach Interessenverbänden umsehen; sie stellen allerdings, gemeinsam mit einer anderen Instanz, die dem modernen Staat entsprechende und von ihm auch tolerierte Form des Zusammenschlusses der Bürger dar. Welches ist die zweite Instanz? “Natürlich – und wiederum so ganz und gar nicht natürlich – die Partei!” (S. 27) “Wer den ständisch geschichteten Staat verneint, verschreibt sich schier zwangsläufig dem Parteistaat” (ebda.).
In den “Sätzen” 13 – 15 liefert Ziegler eine klassische und wohl auch unwiderlegliche Kritik der Parteiendemokratie. In ihr kann “die eigentliche Wahl […] nur unter der Bedingung einer Vor-Wahl stattfinden […], welche die der Partei genehmen Vertrauensmänner aufstellt und der Masse der Wahlberechtigten empfiehlt.” Und: “die Wahl als solche bestätigt höchstens die Vorwahl und ist im übrigen bloßer Trug und Schein” (S. 28). Warum aber? “Kraft einer überaus seltsamen Unterstellung, die schon mehr den Charakter eines Gedankensprunges hat, gilt jetzt auf einmal der gewählte Vertrauensmann seiner Partei für den Vertrauensmann seines Volkes!” (S. 29) “Die Parteien wählen, – aber ihre Gewählten sind Abgeordnete des Volkes, nicht der Partei, vertreten ihr Volk in seiner Gesamtheit, vertreten nicht ihre Partei! Mit dieser überaus sonderbaren Auslegung des Wahlvorganges steht und fällt das demokratische System” (S. 29 f).
Die Demokratie lockert nach Ziegler unweigerlich die natürliche Bindung zwischen Wähler und Abgeordneten “und macht die Wählerschaft statt mit einem lebendigen Menschen mit ein paar Namen auf einem gedruckten Stück Papier bekannt.” (S. 31) Wer würde ernsthaft bestreiten, dass sich hieran auch in den Zeiten des Fernsehens und anderer Massenmedien nichts geändert hat. Das Dilemma ist unausweichlich: “Hier gibt es entweder noch etwas wie eine Wahl: dann aber keine echten Volksvertreter” (weil in einer wirklichen Wahl nur eine kleine Gemeinschaft an die Urnen gehen dürfte). “Oder es gibt Volksvertreter: und dann keine eigentliche Wahl” (weil diese Vertreter von den Parteien vorausbestimmt werden und eben deswegen eine unübersehbare Zahl von Individuen repräsentieren sollen) (S. 32).
Eine Versöhnung dieses Widerstreites sei innerhalb des demokratischen Zustandes nicht abzusehen. Fassen wir das vorläufige Ergebnis zusammen: der Autonomie und dem Selbstbestimmungsrecht des einzelnen Bürgers steht ein Parteienstaat gegenüber, dessen Interessenverbände zwangsläufig jede freie und unabhängige Wahl unterlaufen. Die Masse der Einzelnen jedoch “pocht […] als die Gesamtheit der Wollenden an die Pforte des Staates” (S. 33). Ortega y Gasset formuliert in klar konservativer Ausprägung eine Konsequenz dieser Sehweise: “Heute wohnen wir dem Triumph einer Überdemokratie bei, in der die Masse direkt handelt, ohne Gesetz, und dem Gemeinwesen durch das Mittel des materiellen Drucks ihre Wünsche und Geschmacksrichtungen aufzwingt” ( Der Aufstand der Massen, S. 77). Damit ist auch das Problem der von den modernen Medien betriebenen Geschmacksvermassung angesprochen, die von der heutigen Kulturindustrie universell, wahrhaft weltweit produziert wird. Die vor-, nicht un-demokratische Analyse Zieglers und y Gassets dieses Phänomens wäre zu korrigieren – indem man sich jedoch ihrer grundsätzlichen Einsichten bedient. (Hier lägen Möglichkeiten einer Medienanalyse, die tiefer ginge als die modische Redeweise von “Simulacren” à la Baudrillard.)
Im “siebzehnten” und “achtzehnten Satz” seiner Schrift zeigt Leopold Ziegler, wie sich die verschiedenen Grundfaktoren der modernen Gesellschaft gegenseitig bedingen und ein Beziehungsgeflecht schaffen, das ausmacht, was er mit Eugen Diesel das “Überreich” (S. 40) nennt: “Entwickelt sie [die bürgerliche Gesellschaft] nämlich als ihren politischen Stil die Demokratie, so entwickelt sie als ihren ökonomischen Stil die kapitalistische Geldwirtschaft, als ihren technischen Stil die allgemeine Anwendung von Arbeits- und Kraftmaschinen, als ihren mentalen Stil die hemmungslose Verwissenschaftlichung des Geistes. Tatsächlich ist in allen vieren derselbe harte Willen am Werk, die Wirklichkeit der Menschen und der Dinge rational zu meistern. Wer mithin Demokratie sagt, meint unfehlbar einen bestimmten Staat, dem eine bestimmte Wirtschaft, eine bestimmte Technik, eine bestimmte Geistigkeit in jedem Zuge haargenau entspricht” (S. 35).
An einem besonderen Merkmal der modernen Demokratie, nämlich der Freizügigkeit der Person, verdeutlicht Ziegler, dass die demokratischen Grundwerte ebenfalls eine ökonomische Bedeutung haben. Jede Person hat das vorgeblich angeborene Recht, ihren Wohnsitz nach eigenem Belieben zu wählen. Die Freizügigkeit der Menschen spiegelt sich in derjenigen der Sachen, besonders jedoch in einer, nämlich dem Kapital (vgl. S. 36), dessen freier Fluss allerdings die conditio sine qua non der kapitalistischen Wirtschaft ist. Ziegler sieht und beschreibt die Anfänge dessen, was heute die “mobile Gesellschaft” heißt: “Dem freizügigen Gelde, welches unabänderlich der höheren Rente nachläuft, folgt der freizügige Mensch wie ein witternder Hund einer schweißenden Fährte. Längst hat ihn seine vielgeliebte Wissenschaft dazu erzogen, die ganze Wirklichkeit der Dinge auf Zahlen oder Gleichungen zwischen Zahlen zurückzuführen, und so auch sämtliche “Werte” des Lebens auf den runden Hauptnenner Geld” (S. 37).
Die von der modernen Demokratie vorausgesetzte und gestiftete Freizügigkeit der Person spiegelt sich in derjenigen, von der Technik ermöglichten, des Geldes: “Und beide zusammen zeugen miteinander den neuen Typus des modernen Nomaden mit seiner ganz besonderen Mentalität, den wir nunmehr als den geschichtlichen Träger des Systems anzusprechen haben” (S. 38).
Zieglers selber vor-moderne Ausdrucksweise erschwert heute den Zugang zu seiner Analyse; andererseits bietet sie die unschätzbare Möglichkeit, gesellschaftliche Entwicklungen, denen wir in einem damals unvorstellbaren Ausmaß unterliegen, durch ein Auge wahrzunehmen, das sie von außen, von ihrer anderen Seite her, betrachtet.
Fassen wir zusammen: die Grundform der modernen Rationalität durchdringt alle Gebiete des Lebens. Sie schafft einen sich seit der beginnenden Neuzeit entwickelnden Begriff von Wissenschaft, der sich siegreich gegen alle überkommenen Glaubensvorstellungen durchsetzt. Diese auf Anwendbarkeit ausgerichtete Wissenschaft stellt der kapitalistischen Produktionsweise eine Technik zur Verfügung, die den ihr inhärenten Globalisierungstendenzen zur endgültigen Realisierung verhilft. Der mentale Typus, der diesen Entwicklungen entspricht, beruht auf Traditionsverlust und Entmythologisierung und orientiert sich vorgängig an Kategorien von Profit und Nutzen. Seine politisch-gesellschaftliche Form ist die bürgerliche Demokratie mit ihrem Parteiensystem. Die von Ökonomie und Politik miterzeugten neuen Werte: Vernunftherrschaft, Freizügigkeit und Autonomie der Person, Recht auf individuelle Selbstbestimmung, setzen die Vermassung, den Verlust der Orientierung der in der Gesellschaft vereinzelten Individuen voraus, die nun in der Gefahr stehen, von den im zwanzigsten Jahrhundert von Staat und Wirtschaft entwickelten Instrumentarien der Massenlenkung und -beherrschung erfasst zu werden.
Diese Lenkung greift von vornherein über die Bereiche der Arbeitsorganisation oder der politischen Institutionen hinaus und zielt auf die Privatsphäre der Menschen. Gerade sie soll kommerzialisiert, also den Gesetzen der ökonomischen Verwertungsmaschinerie unterworfen werden. Was Adorno und Horkheimer fünfzehn Jahre später in der “Dialektik der Aufklärung” “Kulturindustrie” nennen, skizziert Ziegler 1931 so: die “seelenbetäubende Überschwängerung unseres Bewusstseins mit optischen und akustischen Sinnesreizen, die sich in jedem Augenblick unseres Daseins ungerufen auf uns stürzen dürfen”, wird produziert von einer “Technik des Spiels, der Unterhaltung, des Genusses, die sich für die heutigen Völker vielleicht noch bedrohlicher auswirkt als jene” [die “Technik der Arbeit nämlich mit ihrer riesigen Apparatur”]; diese “Technik des Spiels [raubt] dem ruhesuchenden Menschen sein bisschen Muße und hetzt ihn je und je in einen Dauerzustand seelischer Übererregung” (S. 62).
“Die ganze Welt – Völker und einzelne – ist demoralisiert”, fasst Ortega y Gasset (Der Aufstand der Massen, S. 200) eine paradoxe Entwicklung zusammen, die die von Ziegler angeführten bürgerlich-demokratischen Werte zugleich stiftet und abschafft oder zumindest relativiert. Dieses Doppelwesen: gesetzt und im Setzen wieder aufgehoben zu werden, gehört zu ihrer Struktur. Hierin liegt der eigentliche Grund, weswegen Nietzsches Zeit-Diagnose den Kern der kapitalistischen Gesellschaft trifft. Ihren Werten muss das gegensätzliche Pendant, das sie aushöhlt, immer beigeordnet sein. Die Bedingung ihrer Geltung ist ihr nihilistischer Untergrund.
Welchen destruktiven Umformungen das Bewusstsein der Moderne ausgesetzt war, wird vielleicht von Rilke am besten verdeutlicht (in einer Passage des an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz gerichteten berühmten Elegien-Briefs aus dem Jahr 1925):
“Noch für unsere Großeltern war ein “Haus”, ein “Brunnen”, ein ihnen vertrauter Turm, ja ihr eigenes Kleid, ihr Mantel: unendlich mehr, unendlich vertraulicher; fast jedes Ding ein Gefäß, in dem sie Menschliches vorfanden und Menschliches hinzusparten. Nun drängen, von Amerika her, leere gleichgültige Dinge herüber, Schein-Dinge, Lebens-Attrappen … Ein Haus, im amerikanischen Verstande, ein amerikanischer Apfel oder eine dortige Rebe, hat nichts gemeinsam mit dem Haus, der Frucht, der Traube, in die Hoffnung und Nachdenklichkeit unserer Vorväter eingegangen war … Die belebten, die erlebten, die uns mitwissenden Dinge gehen zur Neige und können nicht mehr ersetzt werden. Wir sind vielleicht die Letzten, die noch solche Dinge gekannt haben.” (Rainer Maria Rilke: Briefe, Wiesbaden 1950, S. 898 f)
Rilke beschreibt hier in wenigen Sätzen einen ungeheuren Prozess, in dem eine ganze aus traditionsverhafteten Strukturen bestehende Welt durch eine andere, gleichsam ungeschichtliche, ersetzt wird. Der untergründige Nihilismus ihrer Werte dringt in den Alltagsbereich der Menschen ein und formt buchstäblich die Dinge des Gebrauchs, damit aber letztlich auch alle ästhetischen, im weitesten Sinne kulturellen Produkte um. Das zwanzigste Jahrhundert schafft die auratische oder numinose Erfahrung, von der Rilke spricht, weitestgehend ab und setzt an ihre Stelle eine Beziehung von rationaler Bewertung und Streben nach individueller Befriedigung.
Erst hieraus wird deutlich, welchen Umfang und welche Bedeutung die von Ziegler analysierte Relation von moderner Rationalität, Ökonomie und Politik, sowie der Transformation von Werten in “Zahlen oder Gleichungen zwischen Zahlen” (S. 37), also der Merkantilisierung von Zwecken, hat. Der Bereich, in dem es “belebte”, “erlebte”, ja “uns mitwissende Dinge” gibt (der Ding-Begriff, den Rilke besonders in seinem Rodin-Buch entwickelt, kann hier nicht weiter untersucht werden), ist dem anderen der “leeren” und “gleichgültigen” Dinge entgegengesetzt. Der erste konstituierte sich, indem nicht nur äußere, sondern innere Geschichte – das Gegenteil bloß subjektiver Intentionen und Setzungen – sich gerade auch in den Gegenständen des täglichen Bedarfs sedimentierte; der andere bringt den in den Produkten des Marktes verborgenen Nihilismus nach außen: es entsteht eine Umwelt, deren Gegenstände, gleichgültig ob Kleidung oder Häuser, im philosophischen wie im buchstäblichen Sinn austauschbar werden.
Das Reservoir der aufs äußerste gefährdeten kollektiven oder Geschichtsprozesse, die auch Rilke im Auge hat, nennt der frühe Ziegler (und das erscheint uns heute als terminologischer Missgriff) “Volk”. Die entsprechenden Passagen in den “fünfundzwanzig Sätzen”, sowie in “Volk, Staat und Persönlichkeit” müssen nun genauer betrachtet werden – nicht um auf Überholtes oder Verfehltes den Finger zu legen, sondern zum einen, um das utopische Staatsmodell Zieglers strukturell analysieren zu können, zum anderen, weil sich zeigen wird, dass gerade diese Teile der Zieglerschen Theorie Ansätze zu einem Verständnis gesellschaftlich-kollektiver Bewegungen enthalten, die uns heute helfen können, ihr Spezifisches überhaupt wieder in den Blick zu bekommen. Lange Zeit galt alles, was auch nur in die Nähe der nationalsozialistischen Begrifflichkeit kam, nicht nur als obsolet, sondern gleichsam als “undenkbar”. Zieglers Begriffsverwendung hat sich in den dreißiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts, in Abgrenzung zur nationalsozialistischen Ideologie, mit der er niemals gemeinsame Sache gemacht hat, gewandelt. An die Stelle der früheren Redeweise von “Volk” oder “Volkheit” tritt ein differenzierteres ethnologisches Vokabular (so gerade im bereits genannten Werk “Überlieferung”). Der Zusammenhang jedoch der späteren mit der früheren Wortwahl macht es möglich, auch in den bis in die Anfang der dreißiger Jahre veröffentlichten Schriften Segmente einer Theorie kollektiv-numinoser Prozesse auszumachen, die nach wie vor und vielleicht gerade heute von Bedeutung sind.
“Volk” sei, sagt Ziegler, “nicht rechnungsmäßig die Summe vieler Wollenden”, sondern müsse “in einer noch gar nicht individuierten Tiefenschicht gesucht und gefunden werden”. Die “Äußerungen des Volkes sind triebhaft und schon darum “ungewollt”; schon darum freilich auch in Zeiten innerer Aufgewühltheit so über die Maßen unberechenbar, wetterwendisch, ausbrechend und bisweilen sogar unmenschlich, ja ungeheuerlich … Das Volk will nicht und braucht nicht zu wollen, denn siehe, es ist!” (S. 34)
Ein Fazit, strukturell gleichlaufend mit Ortega y Gassets “Aufstand der Massen”, Rilkes Elegienbrief, aber auch Walter Benjamins Theorie des Erfahrungsverlusts, lautet: “die Masse, das ist das Volk im Zustand seiner Selbstzersetzung” (S. 42). – Bereits in “Volk, Staat und Persönlichkeit” lesen wir, “dass das Volk keinen Willen habe. Denn es lebt und betätigt sich als solches erstens ohne Zwecke, zweitens ohne Pflichten und ohne Normen, […] drittens ohne Verantwortlichkeit und ohne Wahlfreiheit seiner Handlungen” (S. 32). Das klingt merkwürdig genug und wird politisch zu jedenfalls prekären Schlussfolgerungen führen; wendet man jedoch den Blick nicht gleich ab (wozu uns eine beinahe instinkthafte Reaktionsweise auf eine Sprache, die in der Nähe der reaktionären Ideologie jener Zeit steht, führen möchte), so kann man erkennen, dass die Merkmale des “Volks” sich kaum von denjenigen unterscheiden, die Sigmund Freud im unbewussten Teil der Psyche, dem von ihm so genannten “Es”, findet. Auch das Es kennt keine rationalen Zwecke, keine Pflichten und Normen, und sein Wille ist gerade nicht der einer individuellen, ihrer selbst bewussten Person. Ziegler entdeckt die kollektiven Züge des Unbewussten, die gerade nicht nach Art einer “Massenpsychologie” beschrieben werden können.
Mit “Volk” ist somit keineswegs die empirische Gesamtheit der Einwohner eines Staates gemeint, “sondern einfach die lebendige Zuständlichkeit in allen und an allen, wofern sie noch nicht Persönlichkeit sind” (S. 54). “Aus dieser Interpretation würde dann folgen, dass jeder einzelne in verschiedenen Graden Volk, in verschiedenen Graden Persönlichkeit sein kann” (S. 55, vgl. hierzu auch besonders die “Magna Charta einer Schule”, S. 259: “Frühestens hier ist also die utopische Stelle erreicht, wo sich der Einzelne in seiner Eigenschaft als Gegenspieler der Gesellschaft innerlich selber aufspaltet in ein Triebfeld, das nach wie vor alle Naturinstinkte mit dem Kollektivum teilt, und in das eigentliche Individuum mit nunmehr persönlich gerichtetem Wollen und Denken.”). Es ergibt sich: “Freiheit und Verantwortlichkeit sind Kategorien der Persönlichkeit” (S. 53). Halten wir zunächst fest, dass in jedem einzelnen etwas Vor-Persönliches überdauert, das ihn emotional-existenziell mit dem Kollektiv, dem er angehört, verbindet. In einer noch nicht individuierten Schicht leben kollektive Verhaltensmuster, die sich wahrscheinlich in frühen Stadien der gesellschaftlichen Entwicklung gebildet haben, und die weiterhin die Äußerungsformen und Empfindungsweisen der Menschen mitbestimmen – und in gewissen Zeiten der kollektiven Auf- oder Erregung in die individuelle Persönlichkeitstruktur durchbrechen, ja sie außer Kraft setzen können: “in den Kreuzzügen, in den ersten Zuckungen der deutschen Reformation, im Wiedertäufersturm, in den Bauernkriegen, im französischen Krieg [von der französischen Revolution und ihren deutschen Ausläufern spricht Ziegler nicht!] und zuletzt und am überwältigendsten zu Ausbruch des Weltkrieges” (S. 45).
Seit altersher, besonders aber seit der Romantik, werden in dieser kollektiven Schicht, die wie ein dionysischer Chaos-Bereich in der apollinisch individuierten Form überdauert, die eigentlich schöpferischen Kräfte des Menschen angesiedelt. Auch Ziegler spricht den “Äußerungen der Volkheit” “Leben und lebendiges Wachstum” zu und zählt zu ihren Produktionen “kollektive[…] Wesenheiten wie Sprache, Mythos, Sage, Märchen, Schrift, Volkslied, Ornamentik, Architektur, Recht, Sitte und mehreres dieser Art” (S. 61 – Recht und Sitte unterscheiden sich offensichtlich von den Pflichten und Normen einer ethischen Disziplin). Gemäß dieser Anschauung gilt aber, dass in politischen, wie in kreativen Prozessen die kollektive Grundschicht sich in ein individuelles Bewusstsein steigern muss, um dem Formlosen Gestalt und Richtung zu geben: “So mögen die bildnerischen Kräfte eines Volkes noch so tief in der Seelenschicht unpersönlicher Unwillkür eingewurzelt sein, – damit ein bestimmtes Bauwerk, eine Hochkirche, eine Stadthalle, ein Rathaus, eine Festung, ein Schloss entstehen, muss ein einzelner Künstlerwille Risse entwerfen […]. Ein einzelner Wille muss die Einheit aller vermittelnden Teilhandlungen jederzeit in sich darstellen, ja er muss diese Einheit überhaupt erst stiften, damit sie vorhanden sei” (S. 62 f). “Nämlich die kollektive Handlung, deren Einheit nicht aus der instinktiven Unwillkür volkheitlicher Tendenzen fließt, bedarf des einheitstiftenden Willens der führenden oder unternehmenden Persönlichkeit” (ebda.).
Dem hierarchischen Modell des Individuums entspricht, wie wir gleich sehen werden, zwangsläufig auch dasjenige des Staates – aber mit gewissen, bedeutenden Unterschieden. Wer nun meint, eine solche autoritär fundierte Theorie habe der Machtergreifung Hitlers zumindest den Boden bereitet, muss auch zugeben, dass die Marxsche Kapitalanalyse in einem ähnlichen Verhältnis zur stalinistischen Diktatur steht; bereits der junge Marx führt in der “Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie” aus, dass die Wissenschaft der politischen Ökonomie sich zum Proletariat verhalte, wie der Kopf zum Leib. Die Strukturäquivalenz zwischen “konservativer” und “progressiver“oder “revolutionärer” Theorie springt ins Auge. Beide Male bedarf ein leibhaftes Kollektiv der Lenkung durch einen führenden Willen. Bloch formuliert das 1935 so: “Praktisch vor allem halte ich es für falsch, Proleten mit schweren Dingen zu behelligen. Keine Propaganda hat je so gearbeitet. Auch keine Lehrgewalt, am wenigsten die erfolgreichste, die katholische Kirche. […] Das Programm der Wissenstotalität ist hier ein falsches, schädliches. Es genügen 15 %, um ein sehr klassenbewusster Prolet zu sein und so zu handeln. Das andere ist Angelegenheit des Generalstabs, oft nur seiner Versuchslaboratorien; die Armee diskutiert keine schwierigen Probleme […]” (Ernst Bloch: Briefe, 2. Band, S. 490, an Joachim Schumacher). Eine solche, auch dieser Äußerung zu Grunde liegende, Anschauungsweise der Verbindung von Kollektiv und Individuum ist tief in Philosophie und Literatur verankert. Ich gebe nur ein kurzes Beispiel: “… an Tagen, wo die Menge / Sich überbraust und eines Mächtigern / Der unentschlossene Tumult bedarf, / Da herrscht er dann, der herrliche Pilot” – nämlich Empedokles (Hölderlin: Der Tod des Empedokles, in: Sämtliche Werke, 4. Band, hrsg. von Friedrich Beissner, Stuttgart 1962, S. 6).
Mit anderen Worten, die rechte wie die linke Theorie (und deswegen haben diese Kennzeichen nur historische Bedeutung) transportiert ein vordemokratisches Gesellschafts- und Persönlichkeitsmodell, das notwendig bei der politischen Umsetzung scheitern musste. Allerdings tragen beide theoretischen und politisch-praktischen Strömungen ihren Anteil Schuld an den Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts. Aber weder Marx oder Bloch, noch Ziegler legitimieren deswegen die stalinistische oder nationalsozialistische Massenvernichtung. Trotzdem bleibt bestehen, dass die im weiteren und engeren Sinne modernen Fortschrittsmodelle einen autoritären Kern haben, der den von ihnen propagierten Zielen widerspricht.
Auf welche Weise möchte nun Leopold Ziegler das “Überreich”, das die kapitalistische Produktion und den Parteienstaat umfasst, reformieren? Zunächst gilt: “Denn in Wirklichkeit […] vermag sich kein ernsthafter Mensch mehr ein politisches Dasein ohne Menschenrechte zu denken, einen Arbeitsvorgang ohne Maschine, eine Wirtschaft ohne Kapital, ein geistiges Leben ohne Wissenschaft” (S. 46). Damit ist klar gesagt, dass der Autor der “Fünfundzwanzig Sätze vom Deutschen Staat” keine Rückkehr in absolutistische Verhältnisse imaginiert. Aber für Ziegler ist unbezweifelbar: “die heutige Demokratie als Partei-, Klassen- und Massenstaat [ist] die “klassische” Staatsform gegen das Volk” (S. 46). “Um Staat für das Volk zu werden, […] muss sie recht und schlecht aufhören, Demokratie zu sein” (ebda.), nämlich Demokratie im falschen, oben beschriebenen Sinne. Die Idee Zieglers, an die “ständischen Restgebilde” der Gesellschaft anzuknüpfen, um einen neuen hierarchisch-demokratischen “Körperschaftsstaat” zu errichten, soll hier nicht im Einzelnen beschrieben werden. Nur so viel: im Körperschaftsstaat wird “die fingierte Unterstellung des “Volksvertreters” preis[gegeben] und […] damit die Wahl als solche” gerettet (S. 48) – jede einzelne Körperschaft soll ihre Vertrauensleute wählen, aus deren “Zahl die nächst vorgesetzte Behörde hervorgehen soll, die dann ihrerseits wieder die nächsthöhere Behörde wählt, – dies fortgesetzt bis zur Wahl der obersten Behörden, die im Besitz der eigentlichen Staatsgewalten sind” (ebda.).
Die obersten Behörden selbst sind mithin von den Bürgern des Staates nicht direkt wählbar. Die ganze Gefährlichkeit utopischer Ideale wird am folgenden Satz sichtbar: “Dank seines Aufbaus ist jedoch der Körperschaftsstaat gegen solche Missstände [früherer Zeiten] gefeit, weswegen er in seinen obersten Behörden eine sinngemäße Verknüpfung beschließender und vollziehender Tätigkeiten ohne Gefahr zulassen kann” (S. 55). Die Herrschaftsmitte des Körperschaftsstaates soll sich aus den Bevollmächtigten des Reichstags und der drei Volkskammern zusammensetzen (einer Volkswirtschaftskammer, einer Volkskammer der Technik und einer der Erziehung), deren vorsitzender Kanzler “den Bevollmächtigten wirklich übergeordnet sein müssen” wird (S. 69), denn da “letzte Verantwortungen nur im Gewissen von Einzelnen ausgerungen werden, […] bedarf eben der Körperschaftsstaat einer ganz starken Herrschaftsspitze, um ein letztes Ja, ein letztes Nein zu sprechen, gegen welches es keine Berufung gibt” (S. 70).
Zieglers Körperschaftsstaat ist ein seltsames Mischgebilde, wirklich eine hierarchisch-demokratische Zwitterform; seine Konzeption steht einerseits merkwürdig quer zu allen realen politischen und ökonomischen Zeittendenzen, was Friedrich Gundolf, dem Ziegler seine Schrift übersandt hatte, in seinem Antwortbrief so ausdrückt: “Als Staatsphilosophie führen ihre Fünfundzwanzig Sätze romantische Weltordnungsgedanken weiter, wie des Novalis ‘Die Christenheit oder Europa’ oder Adam Müllers ‘Elemente der Staatskunst’, so ferne der Aktualität und über ihr, mit dem Selbstgenügen des Schauens” – andererseits spürt der Leser eine nicht nur vor-, sondern manchmal auch antidemokratische Tendenz, die Gundolf fortfahren lässt: “In der möglichen Rechtfertigung des Pöbelwahns seh ich – trotz dem ‘Nachsatz’ [wo Ziegler sich eindeutig gegen Dolchstoßlegende und Antisemitismus der Nationalsozialisten abgrenzt] – eine Gefahr Ihrer Schrift.”
Ziegler war nie, auch nicht zeitweise (wie etwa Martin Heidegger und Ludwig Klages), ein Anhänger faschistischer Ideen. Die mittelbare Nähe mancher seiner theoretischen Begriffe zur rechten Ideologie muss wahrgenommen und analysiert werden – aber nicht, dies muss, weil es von grundlegender Bedeutung ist, noch einmal betont werden, um seine Schriften überhaupt abzutun, sondern im Gegenteil, um dasjenige an ihnen freizulegen, was nach dem Zusammenbruch des sogenannten “Dritten Reichs” ein halbes Jahrhundert lang durch eine nur zu nachvollziehbare Berührungsscheu dem Blick entzogen war. Einer neuen, kritischen und offenen Lektüre zeigen sich, wie erwähnt, unter anderem weitreichende Ansätze zu einer Theorie kollektiver Prozesse, die in Zieglers Begriffsbildung gleichsam eingekapselt sind. Auf einige solcher Elemente soll nun abschließend zumindest hingewiesen werden.
Auf Zieglers Satz, dass eine Gruppe “jedem ihr “fremden” Willen instinktiv einen inneren Widerstand […] entgegensetzt”, wurde bereits hingewiesen. In diesem Zusammenhang ist zu lesen, was im letzten Kapitel von “Volk, Staat und Persönlichkeit” über die “Einsamkeit” des Herrschers ausgeführt wird: “Dabei geschieht wiederum das Merkwürdige, dass Herr und Herrscher eben die gemeinschaftliche Gruppe, welche seine persönliche Leistung sicherlich erst ermöglicht, gleichzeitig bis zu einem gewissen Grade wieder aufhebt und verneint, wofern er ihre Selbstständigkeit und ihr Selbstbestimmungsrecht mit mehr oder weniger Rücksicht unterdrückt. Die Gemeinschaft, ursprünglich von ihm missachtet und für unzulänglich befunden, wird also dennoch gesucht, da der Einsame sonst nicht Herr zu sein vermöchte, aber sie wird auch gleichzeitig zum toten Stoff erniedrigt, der Gestalt und Leben – dies ist eins – aus des Herren Hand und Geist empfängt. […] Selbst der edelste Wohltäter der Gesellschaft bleibt infolgedessen noch ihr Feind, – nicht als ihr Wohltäter, sondern als ihr Herr, der sie durch Wohltun unterjocht” (S. 187 f). Jetzt verstehen wir, warum die Gruppe dem sie Beherrschenden (nicht nur dem, der ihr einen “fremden” Willen oktroyieren will) Widerstand entgegensetzt. Sie spürt instinktiv, dass jede ihr noch so nützliche Lenkung, nach der sie einerseits verlangt, sie auch entmündigt und schwächt. Hieraus resultiert die Dialektik des Verhältnisses von Herrschaft und Gehorsam. Ein tiefer Grund der häufig bemerkten latenten Feindschaft der Untergebenen gerade gegenüber dem “guten” Herrn liegt in der ambivalenten Struktur des Kollektivs: es drängt selber bis in die Moderne dazu, eine “Herrschaftsspitze”, wie Ziegler sagt, auszubilden, und es widerstreitet dieser seiner eigenen Tendenz, weil die entgegengesetzte, niemanden über sich zu dulden, genauso in ihm verankert ist.
Die “eigene[…] Menschlichkeit” des “Volks”, ihr “Gehalt” und “Wert”, dulde, führt Ziegler wiederum in “Volk, Staat und Persönlichkeit” aus, “zuletzt immer nur diejenige Führung […], die sie verdient” (S. 81). Dieser Satz, geschrieben lange, bevor Hitler an die Macht kommt, weist entgegen seiner eigentlichen Intention voraus auf die 1931 gegebene, bereits zitierte Charakteristik kollektiver Äußerungsformen, die “unberechenbar, […] und bisweilen sogar unmenschlich, ja ungeheuerlich” sein können. Diese Einsicht Zieglers hat sich auf schlimmste Weise bewahrheitet; sie gilt aber ungebrochen bis heute. Wir entnehmen ihr, dass es nicht mehr angeht, den in der Nachmoderne noch verstärkten nivellierenden Tendenzen der globalisierten Politik und Ökonomie durch die Konzeption idealer gesellschaftlicher oder staatlicher Verbände entgegenwirken zu wollen. Die tief ambivalente Struktur jedes Kollektivs – und ihre von Ziegler beschriebene Verankerung im Individuum – lässt scheinbar keine eindeutige Lösung der sozialen Problematik zu. Wir lernen von dem konservativen Theoretiker, dass auch die nachmoderne Demokratie nicht ohne Herrschaftsformen auskommt, wie diese nicht ohne ein immer wieder erneuertes demokratisches Potenzial. Es ist immerhin tröstlich, dass ohne es, wie Ziegler erkannt hat, gerade auch die kapitalistische Markt- und Produktionsweise nicht funktionstauglich bleiben könnte.
Im letzten der “Fünfundzwanzig Sätze” durchbricht Ziegler bewusst sein eigenes Konstruktionsprinzip des Körperschaftsstaates: “Durch die Geschichte endlich belehrt, dass jedes starr zu Ende gedachte Prinzip unaufhaltsam in sein Gegenprinzip umschlage” (S. 71 – eben darin spiegelt sich wiederum die kollektive und individuelle Ambivalenz), möchte er für die Wahl des Staatsoberhaupts alle Bürger an die Urnen holen. Dieser theoretische Vorgang, in den logischen und empirischen Untersuchungsablauf Widersprechendes, seine Stringenz nicht Aufhebendes, wohl aber sie Unterbrechendes einzubauen, scheint mir zukunftsweisend. Eine sich solchermaßen selbst reflektierende Rationalität behielte gegenwärtig, dass es kein in sich gänzlich konsistentes Erklärungssystem der sozialen oder kulturellen Realität geben kann. Zieglers Analyse des Zusammenhangs von demokratischem Staat, Ökonomie, Technik und Wissenschaft verdeutlicht uns mithin, dass unser Leben sich in einem komplexen uneindeutigen Bedingungsgefüge abspielt, dem wir nicht entkommen und das wir weder vorbehaltlos akzeptieren, noch gänzlich ablehnen können. Das Zugleich dieser Faktoren und die Möglichkeit, seine paradoxe Logizität kritisch anzuerkennen, kennzeichnet unsere heutige Situation.
Literatur:
Leopold Ziegler: Volk, Staat und Persönlichkeit, Berlin 1917
ders.: Magna Charta einer Schule, Darmstadt 1928
ders.: Fünfundzwanzig Sätze vom Deutschen Staat, Darmstadt 1931
ders.: Überlieferung, Leipzig 1936, 2. Aufl. 1948
Ernst Bloch: Briefe 1903 bis 1975, Frankfurt am Main 1985
Friedrich Gundolf: Briefe. Neue Folge, Amsterdam 1965
Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke, Stuttgart 1946 – 1985
Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Berlin 1968 – 1975
Ortega y Gasset: Der Aufstand der Massen, Stuttgart 1957
Rainer Maria Rilke: Briefe, Wiesbaden 1950